Ein Zimmer hatte er mit ganz besonderen antiquarischen Ausgaben ausgestattet. Ethan betrat den Raum. Es roch nach Holz und altem Papier, auch süßlich nach Leder und vielleicht ein wenig nach Leim, aber das konnte Einbildung sein.
«Komm, Ethan, ich zeig dir meine Sammlung«, hatte Dov den Jugendlichen einst, vor drei Jahrzehnten, angelockt.»Die Leute fragen einander immer: Wenn du auf eine einsame Insel fährst, was würdest du mitnehmen? Hier, Ethan, das war es, was sie hierherbrachten, um sich zu retten. «Es waren die Bücher früher Einwanderer, die Dov interessierten. Er besaß mehrere Ausgaben der Freudschen Traumdeutung. Ethan erinnerte sich, wie Dov mit ihm vor dem Regal stand, einen Band herauszog und sagte:»Hier. Schau. Die Traumdeutung. Die zweite vermehrte Auflage von 1909. Eine wissenschaftliche Revolution, die noch als Buch erschien und nicht in einer Zeitschrift.«
Ethan war es, der Dov später, zum achtzigsten Geburtstag, den Erstdruck besorgt hatte. Er entdeckte ihn bei einem New Yorker Kollegen, der — sterbenskrank — seine Schätze jahrzehntelang gehütet hatte, um sie nun in die richtigen Hände zu geben. Ethan dachte sofort an den alten Freund in Jerusalem, und Dov Zedek versetzte Ethan eine leichte Ohrfeige und sagte:»Du bringst mich noch zum Weinen, du dummer Bub.«
«Mit Freuds Traumdeutung und dem Altneuland Herzls bin ich nach Palästina gekommen. «Dov besaß Altneuland auf deutsch, in Hebräisch, aber auch eine Ausgabe aus dem Jahr 1915 auf jiddisch. Er zeigte auf eine Fassung der Traumdeutung und eine von Altneuland. »Das waren die zwei Bände, die ich eingepackt hatte. Was meinst du? Welches ist letztlich ein Buch der Träume geblieben und welches hilft, ein unabhängiger Mensch zu sein?«
Ein anderes Mal fragte Dov:»Und was, wenn Herzl eines Tages zu Freud gegangen wäre, angeklopft und gesagt hätte:»>Herr Doktor, ich habe einen Traum?<«
Auf der linken Seite des Raumes sah Ethan die Werke von Arthur Szyk, die Schriften von Bialik und Tschernichowski. Alles war unverändert, und ihm war, als komme Dov gleich zur Tür herein. Aus einem Regalfach zog er eine Zeitung hervor, Die Stimme, das einstige österreichisch-zionistische Blatt. Die Ausgabe vom 6. Juli 1934 hatte Dov nie weggeworfen. Bialik, so wurde hier gemeldet, sei eben in Wien verstorben. Ethan blätterte weiter. Vom Mangel an Zertifikaten nach Palästina war zu lesen. Dann Artikel über die Lage der Juden in Deutschland, in Polen und in der Sowjetunion. Sein Blick fiel auf eine Anzeige.»Anspruchsvolle Starkbärtige, Empfindliche, Eilige nehmen nur die sanft-scharfe Schwing«. Auf einer anderen Seite fand er ein Inserat der Kurkommission Bad Gastein.
In einer Ecke waren marxistische Schriften in den verschiedensten Sprachen versammelt. Gleich daneben standen die Werke von Heine und die Dramen von Büchner. Katharina trat in die Bibliothek, die Dovs Arbeitszimmer gewesen war.»Ich traute mich noch nicht herein, seitdem er nicht mehr da ist«, sagte sie. Er wollte sie umarmen, aber sie hatte das Tablett mit Kaffee und Kuchen, mit Teller und Tassen in den Händen. Er nahm es ihr ab. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
Sie behauptete, nichts von den Kassetten zu wissen, die Dov für ihn besprochen hatte. Aber er glaubte ihr nicht ganz.»Auf dem Band sagt er, du seist nebenan, im Schlafzimmer. Er sitze derweil in der Küche. Er sagt am Ende, du bist aufgewacht. Und du hast nichts von seinen Aufnahmen gemerkt? Nichts von dem Plan, sie mir zuzusenden? Nach seinem Tod.«
«Du kennst doch Dov. «Sie korrigierte sich:»Du kanntest ihn. Er arbeitete vor sich hin. Ich wußte von vielem nichts.«
Ethan konnte nicht widersprechen. Solange er lebte, war sie Dov nie ganz nahe gewesen. Als Witwe blühte sie indes auf. War es denkbar, daß er ihr verheimlicht hatte, Vorkehrungen für den Tod zu treffen? Schließlich hatte er ihr vieles verschwiegen. Und treu war er ihr auch nicht gewesen. Selbst als Greis pflegte er romantische Bekanntschaften; nicht mehr leidenschaftliche Affären, aber innige Verliebtheiten. Er belog sie nicht. Immerhin wußte sie, wie unverbindlich er von jeher lebte. Ausschließlichkeit hatte er ihr nie versprochen. Auch das war nun anders, seitdem sie ihn begraben hatte. Nun war sie die einzige, die Eigentliche, wenn auch bloß, weil sie ihn spät genug kennengelernt und ausreichend lange ertragen hatte.
Womöglich wollte Dov sie einfach nicht mit dem Gedanken an sein Ableben belasten. Die Tonbänder hatte er hinter ihrem Rücken besprochen. Nachts. Sie hatte geschlafen. So konnte es gewesen sein. Er richtete sich darauf ein, mit ihr über Felix zu reden und ihr vielleicht ein wenig von Noa zu erzählen, aber zu seiner Überraschung war sie es, die von Rudi Klausinger zu sprechen begann. Sie hatte von dem Nachruf in der Wiener Zeitung gehört.»Was für eine Gemeinheit«, sagte sie.»Dieser Mensch muß ein Schwein sein. Ein Antisemit. Ein Nazi.«
«Katharina, jetzt übertreibst du.«
«Mein Lieber, ich weiß, worum es geht. Ich kenne meine Pappenheimer. Unter meinen eigenen Verwandten sind solche Typen. Ich bin froh, daß du ihm geantwortet hast. Gut, daß du aufgezeigt hast, was für ein Rassist er ist.«
«Das habe ich doch gar nicht geschrieben.«
«Natürlich nicht. Aber alle haben verstanden. «Sie steckte sich eine Zigarette an und zog scharf daran:»Egal. Vergiß ihn einfach. Er ist es nicht wert, sich mit ihm abzugeben.«
«Ich traf ihn gestern in Tel Aviv.«
Sie konnte es nicht glauben. Klausinger der illegitime Sohn von Felix? Ethans Halbbruder? Er spreche Hebräisch? Bald aber faßte sie sich wieder.»Ich kenne diese Sorte. In Wien schreibt er einen Artikel gegen Dov, und hier will er Teil der Mischpoche werden. Und die Geschichte mit Felix! Dein Vater ein Don Juan? Ich bitte dich. Ich könnte mich nackt vor ihm hinlegen, und er würde sagen: Pardon, mein Herr, und so tun, als bemerke er nicht, wer ich bin. Felix doch nicht! Dieser Rudi Klausinger nutzt seine Krankheit aus.«
«Katharina, dieser Rudi Klausinger ist überzeugt, mit uns verwandt zu sein. Und Felix war eindeutig. Er hat es bestätigt.«
«Nimmst du ihn schon in Schutz, weil er dein Bruder sein soll? Früher versuchten Juden, um zu überleben, als Arier zu gelten. Nun fahnden Kinder ehemaliger Nazis nach Vorfahren, die als Sarah und Israel verfolgt wurden, um instant koscher zu werden. Rudi Klausinger hat sich seinen Felix Rosen gefunden.«
«Da oben sind nackte Frauen, Männer auch. «Stellungen, die er noch nie gesehen habe. Ein Gestöhne und Geseufze ohne Ende. Das reinste Pornokino. Er ächzte die Worte, lag zerschlagen da. Vor der Dialyse habe er sich gefühlt wie eine Fischleiche, aufgequollen und faulig, jetzt fühle er sich leer. Er lächelte gequält.»Und hier, auf der anderen Bettseite, steht manchmal ein Herr. Übrigens sehr elegant. Muß ich sagen. In der Hand einen Spazierstock mit rundem Messinggriff. Überaus freundlich. Der nickt mir zu, und wenn er zum Fußende gleitet, dann verschwimmt seine Figur wie hinter gewölbtem Glas. Dort scheint er dünn, da dick. Eine Gestalt aus dem Lachkabinett. «Er winkte ins Leere. An seinem Arm der Shunt für die Blutwäsche, nicht weit davon die Tätowierung aus dem Lager.
«Er schwebt auf und ab. Hier vor mir. So klar wie du… Ich weiß, daß er nur Einbildung ist. Mein Gehirn sagt mir, ich darf meinen Augen nicht trauen. Verstehst du? — Ich bin ganz klar im Kopf. Es ist eine optische Täuschung. Aber ich durchschaue sie. Und du ahnst nicht, wer mich seit gestern besucht. Ein gemeinsamer Freund von uns allen. Der alte Dov Zedek. So lebendig wie du. Er stand da und sprach mir Mut zu.«
Ethan horchte auf.»Könnte es sein«, murmelte er,»daß Dov nicht wirklich gestorben ist?«