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«Ethan, liege ich hier oder du? Bekomme ich Morphium oder du? Habe ich Halluzinationen oder du? Dov Zedek ist gestorben, begraben. Er ist tot! Begreife es, Junge. Er ist nicht mehr. Was ich sehe, sind Trugbilder, und ich weiß es. Ich bin ganz klar im Kopf, Ethan. Ich könnte jetzt sofort Geschäfte mit dir machen. Dov ist tot. — Aber was kommt nach? Was bleibt übrig?«

Ethan kannte die Geschichte, die nun folgen würde. Ein alter Freund, Stahllieferant, hatte Felix vor einem Jahr angerufen. Er war eines Tages zur Bank gegangen. Am Schalter erfuhr er, daß der Sohn, zeichnungsberechtigt, alles Geld vom Geschäftskonto abgehoben hatte. Der Metallhändler war außer sich, rief den Jungen an. Weshalb der Bub die Einlagen transferiert habe? Das Geld sei nun auf seinem Sparbuch, habe der seelenruhig geantwortet. Wieso denn? Warum er so etwas mache? Er sei doch ohnedies sein Nachfolger. Er würde sowieso alles nach seinem Tod bekommen. Solange werde er doch noch warten können. Aber der Rotzbengel antwortete, er habe eigene Pläne. Er brauche die Investition jetzt, sofort. Warum, so fragte der Alte, habe er nicht darum gebeten? Was er sich erlaube? Ob er seinen Eltern keinen Respekt schulde? Und überhaupt! Das Kapital sei doch nicht ihr Privatbesitz, sondern Firmeneigentum. Er sei schließlich bei seinen Partnern im Wort. Er schulde denen jetzt Geld. Er müsse Verbindlichkeiten gegenüber Kunden begleichen. Der Vater hatte am Ende gar mit dem Anwalt gedroht. Wenn er nicht zur Vernunft komme, müsse er ihn, den Sohn, vor Gericht bringen.»Wie du willst«, habe der geantwortet.»Aber dann melde ich alles der Finanz. Dann verlierst du viel mehr. Dann bleibt dir nichts.«

Felix liebte es, solche Geschichten zu erzählen, sprach von den Greisen, die ihr ganzes Leben und den Aufbau des Landes niemand anderem als ihrem Nachwuchs gewidmet hatten, der Jeunesse doree des Kleinstaates. Diese Alten, den Lagern entkommen, seien hierhergeflüchtet, um Frieden zu finden… Und was sei daraus geworden?

Ethans Mobiltelefon klingelte. Er verließ den Raum, stand im Gang.»Professor Rosen? Hier spricht Rav Jeschajahu Berkowitsch.«

«Ja?«

«Verzeihen Sie, Professor Rosen, wenn ich Sie behellige, aber ich muß Ihnen ein Geheimnis verraten.«

«Müssen Sie?«

«Wenn ich es Ihnen doch sage. Sie können mir helfen und nicht nur mir, sondern allen Juden, ja, der gesamten Menschheit.«

«Ich fürchte, Rav, Sie sind falsch verbunden. Ich gebe nichts.«

«Wer redet von Geld? Im Gegenteil. Es geht um eine Hinterlassenschaft.«

«Ein Erbe?«

«Eher ein Vermächtnis.«

«Die Tradition? Sie wollen mich zum Glauben zurückholen?«

«Werter Herr Professor, ich habe gehört, daß ich bei Ihnen keine Chance habe. Sie haben heute keine Tefiilin gelegt, gestern nicht und werden sich morgen keine umbinden. Und wissen Sie was? Ich weiß sogar, warum.«

Und ehe die nächsten Worte sein Ohr erreichten, sah Ethan den fetten Hintern vor sich, erinnerte er sich an das Wippen im Flugzeug, dachte er an den Orthodoxen, der sich ins Gebet geworfen hatte, hin und her, als gelte es, das Flugzeug zum Absturz zu bringen, und da hörte er den Geistlichen sagen:»Sie stehen nicht auf Leder!«

«Sind Sie der Fromme, der im Flieger neben mir saß?«

«Nein. Ich sagte doch, ich bin Rav Berkowitsch.«

Im selben Moment begriff Ethan, mit wem er es zu tun hatte, und er erinnerte sich, über diesen Rabbiner Berkowitsch in der Zeitung gelesen zu haben. Eine geistige Autorität. Ein ultraorthodoxer Führer, der im Hintergrund der religiösen Fraktionen agierte.

«Der Chassid, der damals mit Ihnen flog, arbeitet für mich. Ich habe, Herr Professor, Erkundigungen über Sie eingezogen. Es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, derentwegen ich Sie sprechen muß. Es geht um Ihre Familie. Um Ihre Verwandtschaft. Ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten, von dem niemand weiß und das Ihre Vorfahren und auch Sie betrifft.«

«Ein Geheimnis?«

«Mehr noch, ein Rätsel, das nicht einmal Ihre Eltern kennen.«

«Was haben denn meine Mutter und mein Vater damit zu tun? Können Sie die beiden nicht aus dem Spiel lassen?«

«Wenn ich doch sag: Wir sollten einander sehen«, erklärte der Rabbiner, und Ethan war gar nicht mehr überrascht, als der Geistliche den Haupteingang jenes Krankenhauses, in dem er sich gerade befand, als Treffpunkt vorschlug. Sie vereinbarten, einander in einer Woche dort zu sprechen.

Im Zimmer des Vaters ein Aufruhr. Die Familie am Krankenbett. Ein Gedränge. Ethans Onkel Jossef, der Bruder von Dina. Hinter ihm Rachel, seine Frau, die ihren Mann beiseite schob und aufjauchzte, als stünde sie nicht vor einem Leidenden, als gebe es hier keine Patienten, niemand, der Ruhe brauchte, keine verzweifelten oder trauernden Angehörigen. Sie schrie:»Du hier? Er ist hier, Jossef, da ist Ethan! Er ist hier! Du hast gar nicht gesagt, daß du hier bist! Jossef, hast du gewußt, daß Ethan hier ist? Seit wann bist du im Eretz?«Sie schlug die Hände zusammen.»Warum meldest du dich nicht, Ethan? Jossef, was sagst du? Hat er dich angerufen? Findet er es notwendig, seine Familie zu besuchen? Kümmert er sich, ob wir noch leben?«Aber sogleich zwickte sie ihn in die Wange und begann zu säuseln:»Nu, mein Süssinker, wann kommst du deinen Onkel Jossef und deine Tante Rachel besuchen?«Er versuchte sich von ihr zu befreien, lächelte dabei und drehte sich ein wenig zur Seite. Jossef war Stadtbeamter in Tel Aviv gewesen, Rachel hatte im Einwanderungsministerium gearbeitet. Sie umarmte Ethan, jede ihrer Bewegungen wurde von einem Ächzen begleitet, jede Geste war ein Vorwurf. Vor dem Fenster eine entfernte Verwandte seiner Mutter, Jaffa, in deren Nähe Ethan als Jugendlicher immer errötet war. Eine blond gesträhnte Erscheinung mit immer noch jugendlichem Körper und allzu straffem Gesicht. Die Backen mochten hinter den Ohren festgezurrt worden sein. Sie drückte Ethan, kniff seine Wangen und quietschte dabei wie eine Gummiente. Nimrod, ihr Mann, ein Riese, das Gesicht eine Maske aus sonnengegerbter Gleichmut, ein verdorrter Feschak, Reeder und Besitzer einer großen Schiffswerft, grüßte mit einem Nicken, ohne zu lächeln, und brummte im Baß. Eine Stimme aus dem Eichenfaß.

In der Ecke lehnte der Enkel einer Großtante mütterlicherseits. Schmuel, ein Rotschopf voller Sommersprossen, hatte seinen Militärdienst als Sanitäter in den besetzten Gebieten absolviert. Hier geriet er mit Offizieren in Konflikt, als er bei Übergriffen auf Palästinenser dazwischenging. Nach der Armee hatte er, wie so viele, ein Jahr in Indien verbracht. Dort wollte er seine Ängste loswerden; einige Rauchwaren und manche Rauschmittel sollten dabei helfen. Nun stand er da, als wäre er, zumindest geistig, noch nicht ganz angekommen.

Das Zimmer war eine Blumenhandlung. Alle hatten einen Strauß mitgebracht. Krankenschwester Frida sorgte für Vasen, und sein Vater lag da, als wäre das Bett ein Thron. Unübersehbar, wie sehr er litt, aber ebenso, wie sehr er sich bemühte, die Schmerzen zu überspielen. Er stöhnte bei jeder Bewegung, bewahrte Haltung, wirkte aber sehr steif und blaß dabei. Der Überfall so vieler Verwandter auf einmal war nicht abgesprochen. Sie waren unabhängig voneinander in die Klinik gekommen, um ihn vor dem Wochenende zu sehen. Er schickte sie nicht weg und wollte sich keine Blöße geben, denn hier war Felix Rosen, der zwar nicht unbedingt gern um sein Leben, aber auf jeden Fall für sein Leben gern kämpfte.

In manchen mitteleuropäischen Ländern, dachte Ethan, hätte eine solche Ansammlung als Invasion gegolten, und während ihn die Distanziertheit und Unnahbarkeit dort abstießen, litt er hier, eingezwängt zwischen den anderen der Mischpoche, unter der Beengtheit. Niemand bemühte sich um Ruhe, seine Familie war ein Rollkommando. Das Gespräch kreiste um Felix, umging sein Schweigen, schwebte um die Niere, die ihm fehlte. Der Werftbesitzer Nimrod Karni sagte, er kenne Orte, an denen sich menschliche Organe kaufen ließen, ohne weiteres, und das koste sicher nicht die Welt. Genügend Menschen hätten zwar zwei von diesen Teilen, die verhinderten, innerlich zu ertrinken, aber zu wenig Geld, um sich über Wasser zu halten.