Einen Moment lang horchten alle, was Felix dazu sagen würde, doch der atmete nur ein wenig schwerer als vorhin. Ethan öffnete das Fenster, um frische Luft einzulassen.»Nackte an der Decke«, wisperte der Kranke plötzlich,»ein Reigen. Verrenkungen. Orgien. Ein Kamasutra.«
Niemand wußte mit diesen Worten etwas anzufangen, doch dann sagte die Tante, sie kenne solche Tempelbilder, in Indien hätten die Menschen ein anderes Verhältnis zu Leib und Liebe. Der Tod sei dort nur ein Übergang, der einzelne eine Inkarnation. Und erst die islamischen Selbstmordattentäter…
Vater sehe Traumbilder, erklärte Ethan. Er habe Visionen.
Die anderen verstummten, aber Jossef hielt die Stille nicht aus. Die Rabbiner seien jedenfalls zu streng, wenn es um Transplantationen gehe, worauf seine Frau vorrechnete, jeder tote Attentäter verschleudere seine zwei Nieren in alle Himmelsrichtungen, von den Körpern der Opfer ganz zu schweigen.
Jaffa setzte sich zu Felix und rückte das Essen näher an ihn heran. Sie reichte ihm die Gabel. Die anderen schauten zu, doch nach ein paar Bissen schob Felix den Teller weg:»Hier. Da ist Dov. Hörst du, Ethan? Dov Zedek!«
«Abba, er ist tot, begraben.«
Die anderen schauten einander entsetzt an, aber Felix stemmte sich in die Höhe, als seien seine Schmerzen verschwunden und stöhnte ins Leere:»Dov? Die Leichen müssen weg, Dov. Auch mein Vater und deiner. Ich kann nichts dafür. - Schaut doch! Dort an der Tür. Der junge Adolf Gerechter. Ein Dibbuk!«
Und obwohl alle im Zimmer überzeugt waren, daß der Kranke unter einer Halluzination litt, wandten sie sich um, und erst jetzt bemerkten sie den Fremden, sahen sie Rudi Klausinger, der näher trat und sagte:»Felix, ich bin es. Rudi.«
In diesem Moment entspannten sich die Angstfalten im Gesicht des Kranken. Er lächelte:»Rudi!«Rudi drängte sich an den anderen vorbei. Jaffa stand auf, um Platz zu machen. Er beugte sich über Felix und drückte ihm die Hand, doch der zwang ihn zu sich herunter und küßte ihn auf die Wange. Er streichelte seinen Arm.
Felix wisperte:»Was hältst du eigentlich von Nieren aus Indien, mein Sohn? Sollen wir kaufen? Oder abstoßen? Bevor die Kurse fallen…«
Rudi hielt immer noch die Hand des Alten und schwieg. Die anderen waren verstummt. Irgend jemand wisperte:»Hat er mein Sohn gesagt?«
Nimrod, als Reeder unempfindlich gegen alle Gefühlswogen, brummte:»Hier geht es nicht um Aktien. Niemand handelt mit Organen. Ich habe bloß von einer Entschädigung gesprochen, von Schmerzensgeld. Ein Zeichen der Anerkennung für Menschen, die ihre Niere spenden würden.«
Felix hielt Rudis Linke wie die Pfote eines kleinen Hündchens und schnaufte erschöpft.
Ethan sagte:»Darf ich vorstellen: Doktor Rudi Klausinger. Aus Wien.«
Rudi verbeugte sich ein wenig. Die anderen nickten ihm zu.
Da hob Felix den Zeigefinger und sagte leichthin:»Sie sind Brüder.«
Es war mit einemmal, als würden die Besucher und nicht er von Halluzinationen heimgesucht. Sie schauten den Fremden an wie ein Gespenst. Jaffa starrte ihn mit offenem Mund an. Ihr Mann zuckte die Achseln. Onkel Jossef blickte noch stumpfer als sonst. Nur der Jüngste, Schmuel, strahlte. Jede seiner Sommersprossen blühte auf. Er lehnte nicht mehr an der Wand, die Arme an den Rumpf gepreßt, die Hände in den Taschen vergraben, sondern richtete sich auf, seine ganze Gestalt gewann an Größe. Er musterte Rudi, als wäre er eines jener wundersamen Phänomene, die ihm in Indien begegnet sein mochten, ein Yogi etwa, der sich seit zwanzig Jahren nur von Wasser ernährte, rückwärts ging und keinen Tag begann, ohne drei Pfeilspitzen durch seine beiden Wangen zu bohren. Schmuel war begeistert. Die Tante aber atmete mit aufgesperrtem Mund, als wolle sie einen Spiegel beschlagen. Es dauerte eine Minute, bis sie doch wieder zur Sprache fand, um nur ein Wort hervorzupressen:»Ojwej.«
Felix schaute wieder zur Decke, entrückt, als ginge ihn das Ganze nichts an. Ethan wußte nicht, was er sagen sollte. War es nicht an Vater oder an Rudi, den Mund aufzumachen? Die beiden aber schwiegen.
Rudi starrte ins Leere. Er kannte hier niemanden. Was sollte er sagen? Seine Mutter war tot. Nie hatte es zwischen ihnen eine Nähe gegeben, wie er sie hier, in diesem Krankenzimmer, spürte. Früh hatte sie ihn zu einer Pflegefamilie nach Tirol gebracht und dort in ein Internat gesteckt. Er war fern von ihr aufgewachsen. Seine Tiroler Zieheltern, knorrige Bergmenschen, hatten ihn geliebt, aber wie einen Marsianer. Sie staunten, wie sehr er einer von ihnen geworden war, doch in Wahrheit barg ebendiese Anerkennung das Bekenntnis, daß er nie wirklich zu ihnen gehören würde. Und daß er ihnen so dankbar dafür war, wie liebevoll sie ihn aufgenommen hatten, bewies, wie fremd er ihnen geblieben war. Dann hörte er Tante Rachel murmeln:»Kennt ihr Dina nicht? Sie wird ihn umbringen. Ihre Niere hat sie ihm gegeben!«
In diesem Augenblick ging ein Ruck durch Felix, und er stöhnte:»Dina!«Niemand blickte in die Richtung, in die er sprach. Sie dachten, er reagiere auf Rachels Einwurf mit einer seiner Phantasien, doch schon rauschte sie herein. Sie umarmte Jaffa, streifte mit ihrem Ohr Nimrods Wange, preßte Schmuel an sich, drückte Rachel und Jossef ein Bussi auf und ließ sich von Ethan küssen.»Seht, wer heute alles hier ist!«Sie sah Rudi.
Alle im Raum hielten den Atem an.
Sie bemerkte das Zögern, sagte:»Schön, dich zu sehen, Rudi, mein Lieber «und drehte sich blitzschnell zu den anderen. Sie bitte nun die Verwandten zu gehen. Sofort. Felix brauche Ruhe. Soviel Besuch auf einmal sei zuviel für ihn. Sie werde sich am nächsten Tag bei allen melden. Versprochen. Und als Rachel widersprechen wollte, herrschte Dina sie an:»Raus jetzt, meine Liebe! Verstanden? Hopp hopp. Das ist ein Spital, kein Kaffeehaus.«
Es war ein Befehl. Alle drängten hinaus, winkten Felix noch einmal zu.
Erst als die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, wandte sie sich um und musterte Rudi von oben bis unten:»Ihr seid euch ähnlicher, als ich dachte. Unverkennbar Brüder. «Sie dürfe ihn doch Rudi nennen. Und er solle Ima zu ihr sagen. Ein Sohn von Felix sei auch ihr Sohn. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen.
Er danke ihr, brachte Rudi hervor.
Dina sah ihn von unten her an.»Was hast du denn gedacht…«Sie atmete durch:»Felix und ich haben uns immer ein zweites Kind gewünscht. Vergeblich. Es ist nun wichtig, zusammenzuhalten, damit Felix gesund wird.«
Der Vater schaute zur Decke, als gehe ihn das Gespräch gar nichts an. Er folgte den Bildern und Szenen, die sich über seinem Kopf abspielten. Die Mutter und Rudi hingegen hatten einander fest im Blick. Ein Doppelpack an unerbittlicher Freude. Ethan stand abseits und sah zu, wie die eigene Familie ihm fremd wurde.
6
Von einem Tag zum anderen waren die Schmerzen beinahe verschwunden. Es blieb ein Nachhall im Rücken. Ein bamstiges Weh, die Erinnerung an das Glühende, das sein Kreuz zerfleischt hatte. Die Ärzte wußten nicht, woher die Linderung kam. Sie hatten nicht herausgefunden, was in ihm vorgegangen war, und nun begriffen sie nicht, wieso er nicht mehr daran litt. An seiner eigentlichen Krankheit hatte sich nichts geändert. Er mußte weiterhin zur Dialyse, und ohne Transplantation würde er nicht mehr lange leben.
Die Trugbilder hielten noch länger vor, aber die Nackten traten in den Hintergrund. Und wenn sie sich zeigten, kamen sie ihm nicht mehr so nah. Hatten ihre Füße eben noch fast die Bettdecke berührt, waren sie nun unerreichbar weit weg.
Schwester Frida nahm seine Phantasien merkwürdigerweise persönlich. Sie wußte, daß Felix nur der Medikamente wegen halluzinierte. Und obwohl sie an der Überdosis nicht ganz unschuldig war, empfand sie die Visionen als Beleidigung. Vielleicht war es auch ihr schlechtes Gewissen, das sie fürchten ließ, Felix, ihr Lieblingspatient, sehe in den Pflegerinnen verkleidete Huren und verdächtige sie, die kleine, fürsorgliche Matrone, heimlich die Puffmutter eines einschlägigen Etablissements zu sein. Meinte er etwa, sie hätte ihm absichtlich zuviel vom Schmerzmittel verabreicht? Sie blickte ihn beleidigt an und schwieg verbissen.