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Jota und ihre Arbeitsgruppe verpflichteten sich, ausführlichere Tagesbulletins auszuhängen. Sie waren erfinderisch genug, um sich auch diese die Forschungen nicht fördernde Arbeit von einem Computer erledigen zu lassen. Etwa ein halber Meter engbedruckten Papiers hing pünktlich neunzehn Uhr Bordzeit an der Labortür.

In den ersten Tagen wurden diese von Zahlen strotzenden Berichte sehr aufmerksam gelesen, und selbst die Zwölfjährigen lernten die Bedeutung der darin vorkommenden Parameter kennen. Dann erlahmte das Interesse allmählich. Wir fragten nach den Hauptkennzahlen und schenkten uns den Rest, schließlich hieß es nur noch: nichts Neues.

Nach einem Vierteljahr ereignislosen Wartens stieg unsere Risikobereitschaft sprunghaft. Gegen die Stimmen von Jota und Zeth, aber mit den Stimmen von Ilona und Gamma beschlossen wir, trotz restlicher Unvollkommenheiten der „Superalge“ die Aussaat zu wagen. Bedenklich erschien vor allem die zu hohe Mutationsrate. Doch ein weiteres Warten hielten wir für das geringere Übel. Und wir hofften, gegebenenfalls steuernd eingreifen zu können.

Dann war es soweit, in der Zentrale beobachteten wir den Start der zweihundert Kleinraketen, die je ein Kilo „biologisch aktiver Materie“ in der Atmosphäre versprühten. Der Hauptschirm zeigte den gesamten Planeten, aufgenommen von einem in einem sehr hohen Orbit kreisenden Satelliten. Eine Perlschnur heller Funken löste sich von dem leuchtenden Stern des Schiffs, verteilte sich über ganz Andymon. Die Aussaat begann.

„Seid fruchtbar und mehret euch!“ Mit diesen seine Bildung betonenden Worten gab Myth den Anstoß zu einer Vielzahl von lauten Wünschen und grandiosen Prophezeiungen.

Ich konnte die heftige Freude der Geschwister nicht völlig teilen. Zweifel mischten sich in sie. Zeth hockte da, er hatte den Kopf in die Hände gestützt und schüttelte ihn immer wieder. Perfektionismus oder berechtigte Skrupel — ich wußte es nicht. Ein paar Mutationen konnten nicht viel schaden. Völlig unterdrücken ließen sie sich sowieso nie. Oder? Was wir in die Wege geleitet hatten, ließ sich nie wieder rückgängig machen, ob es nun unseren Wünschen entsprach oder nicht. Im schlimmsten Falle, wenn sich Zeths oft ausgesprochene Befürchtung bewahrheitete, würde Andymon auf unabsehbare Zeit unbewohnbar sein mit einer Atmosphäre, in der Wellen unterschiedlichster biochemischer Prozesse aufeinanderfolgten, reduzierende und oxidierende Algenarten, Fotosynthese und Gärung und vielleicht noch völlig unbekannte Prozesse einander ablösten, mit Temperaturschwankungen um hundert Grad oder mehr, vielleicht mit einem völligen Zusammenbrechen der Atmosphäre oder einer Vergletscherung.

Zeths Befürchtungen waren nicht unbegründet. Doch wie immer hielt Andymon Überraschungen besonderer Art für uns bereit.

Mit eigenen Füßen ermessen

Teth sah müde aus, Ringe unter den Augen, ein Flaum von Bartstoppeln ums Kinn. Mühsam streifte er den Schutzanzug ab, an dem noch Spuren von Schmutz klebten. Er holte tief Luft, erwiderte meinen Blick und fragte unerwartet: „Weißt du, wie groß Andymon ist, Beth?“

„Natürlich“, sagte ich, wie sollte ich die Parameter unseres Planeten nicht kennen, „Durchmesser 11450 Kilometer, Masse 4,36 mal 1021 Tonnen, Oberfläche 414 Millionen Quadratkilometer, Äquatorialumfang 36000 Kilometer.“

Und nach der Umgestaltung konnten wir mit 73,2 Prozent Landfläche rechnen, die drei riesige Meere umschließen würde — das irdische Bild vom Weltmeer und den darinliegenden Kontinenten auf den Kopf stellend.

„Nichts verstehst du“, sagte Teth triumphierend, „gar nichts. Ich wollte wissen, wie groß Andymon ist. Ich bin gelaufen, geradewegs nach Norden, immer der Kompaßnadel nach… Meine Füße, Beth, kannst du mir nicht helfen, die Unterschuhe auszuziehen? Ich habe Blasen, bestimmt riesige Blasen..

Er hatte sich tatsächlich beide Füße wund gelaufen. Die Blasen waren bereits aufgeplatzt, und ich mußte sie behandeln.

„Wozu rennst du auch in der Wüste herum“, tadelte ich ihn, „die Gegend sieht doch überall gleich aus. Und morgen kannst du keinen Schritt mehr gehen.“

Teth schüttelte nur den Kopf, sein Gesicht war schweißbedeckt. „Bin ich vielleicht gelaufen, bis über den kleinen Höhenzug, weißt du, Stunde um Stunde, bis ich nicht mehr konnte, und dann immer noch ein Stück und immer noch eins… Au, sei bloß vorsichtig!“

Gnadenlos zog ich ihm die Socke vom anderen Fuß. Der Spray würde rasche Linderung bringen.

„Merk dir, Teth, du bist hier nicht im Totaloskop, wo du probieren kannst, was Schmerz, Erschöpfung, Tod ist, wo du nach dem Sprung ins Nichts unversehrt wieder aussteigst.“

Mitleidig schaute er auf mich herab. „Aber Beth, versteh mich doch, das ist ein ganzer Planet, ein Himmelskörper, ein Wandelstern! Weißt du, was das heißt, wie groß so ein Ding ist? Komm mir nicht wieder mit Zahlen, du hast ja keine Vorstellung davon. Schaust dir das Ding nur von draußen an, aus dem Kosmos, da sieht Andymon aus wie ein Ball, und du meinst, du könntest mit ihm spielen. Dann landest du mit der Fähre hier, läufst drei Schritt nach links, drei nach rechts, ziehst dich hinter die sicheren Wände der Station zurück und denkst, jetzt habe ich Millionen Quadratkilometer betreten, und schickst die Roboter vor. Aber Andymon verstehst du noch lange nicht, begreifst nicht, was das sind: Gebirgsketten, Wüstenzonen.“

Teth schniefte, die erregten Worte hatten ihm den Atem geraubt, doch der Stolz, Andymon die Stirn geboten zu haben, ließ ihn fortfahren. „Ich hab’s probiert, Himmel, was bin ich gelaufen. Zwanzig Stunden durch Geröll und Sand und über Klüfte und Felshalden. Schau auf der Karte nach, es ist nur ein winziges Strichchen, mit dem Kopter brausen wir in ein paar Sekunden darüber weg. Und mit dem ist es bis zur Station fast eine Stunde, und um Andymon zu umfliegen, brauchst du mehr als einen Tag. So klein sind wir, so winzig…“

Ich sorgte dafür, daß unser Romantiker ins Bett kam, ohne mit seinen Füßen den Boden zu berühren. Fast augenblicklich schlief er ein.

Später bin auch ich über die endlosen Ebenen Andymons gewandert. Es waren eigene Erlebnisse nötig, bis ich einen gewissen Eindruck von seiner Größe hatte, bis ich seine wahren Dimensionen erfaßte. Und noch heute, wenn ich mit jüngeren Geschwistern durch weites kultiviertes Land oder durch die wohl auf Generationen unermeßlichen Gebiete der Wüste oder des Wildwuchses wandere, denke ich manchmal, daß ein Leben nicht ausreicht, um zu verstehen, wie groß unser Andymon wirklich ist.

Kristallbaum

Wir nahmen Abschied von Andymon, Gamma und ich. Bald würde aus kilometerstarken Wolken ein tosender Regen niederprasseln, alles in Schlamm versenken. Bald würden Stürme toben, Orkane, denen nicht einmal Felsen gewachsen waren. Schon ließ sich das verstärkte Brodeln der Atmosphäre messen.

Wir wollten Andymon ein letztes Mal sehen, so wie er War, bevor Menschen ihn betraten, den rohen, steinigen, toten Planeten. Und wir wollten wenigstens einmal allein über den ursprünglichen Andymon wandern. Natürlich existierten Hologramme von ihm, aufbereitet für die Totaloskope, den kommenden Generationen zur Erinnerung. Trotzdem war es für uns ein Abschiednehmen. Ein Abschied ohne Wehmut — bis wir den Kristallbaum fanden.

Mit dem Rover hatten wir uns einige Kilometer von der Station entfernt, nun stiegen wir aus, um zu laufen, soweit es die Sicherheitsregeln zuließen. Ich hielt Gamma an meiner plast- und metallverkleideten Hand, vorwärts stapften wir, schräg gegen den Wind gebeugt, der von rechts blies. Kleine Steine rollten über unsere Skaphanderschuhe, Andymon knirschte in allen Felsspalten. Wir redeten kein Wort, hörten nur das amelodische Brausen Andymons.

Ohne besonderen Grund steuerten wir eine Schlucht an, vor deren Eingang Staubhosen Wächtern gleich standen. Vorsichtig umgingen wir sie. In der Schlucht wehte uns ein Sturm entgegen, daß wir kaum vorwärts kamen und nur selten den Blick heben konnten, um die zerrissenen, vom Wind ausgeschliffenen, von Steinstürzen zernarbten Wände zu betrachten. Näher tretend, erkannten wir die abstrakten Muster der Geologie, feine Äderungen im Gestein, hier und da ein Schimmer von Quarz, rötliche Einschließungen, schwarze Streifen.