Ich schluckte, sie gab mir einen Kuß auf die Stirn und nahm Abstand, um aus der Entfernung zu beobachten, wie ich ihre Beweisführung verdaute. Vieles ging mir durch den Kopf: Daß die Geschwister, wenn sie mich als Anführer wollten, mich wählen sollten, was aber irgendwie formal, eben irdisch im schlechten Sinne wäre. Daß ich sicher nicht so viel Vergnügen am Vordrängeln hätte wie Delth. Daß ich überhaupt nicht gewußt hatte, worin seine „Kommandantenpflichten“ bestanden, außer darin, bei unseren Versammlungen den Boß zu spielen. Daß eigentlich Gamma einen viel weitblickenderen Kommandanten abgäbe als ich.
Mit gleichmäßigen Schaukelbewegungen tanzte das Zimmer auf und ab - Blumenbank und Intercom. Das Bücherbrett mit den selbstentdeckten und eigenhändig gebundenen Schätzen einer weit in Raum und Zeit entlegenen Erde. Gammas Bilder an den Wänden. Und sie selbst, immer noch ihren Triumph auskostend. Ich überlegte. Dann hielt ich mitten im-Schaukeln inne.
„Weißt du, Gamma, unsere Geschwister sind jetzt so erwachsen, die brauchen keinen Anführer mehr. Bestenfalls einen Koordinator, eben einen, der über alles informiert ist, der Streit schlichtet, in extremen Situationen schnell eine Entscheidung trifft, aber hauptsächlich, wie Soll ich es ausdrücken, die Meinungsbildung organisiert. Auch wenn es mir nicht viel Spaß machen wird, ständig Kinderprobleme zu lösen.“
Gamma nickte. „Du mußt es am Anfang ja nicht übertreiben. Ich werde dich schon anstoßen, wenn es nötig ist.“
Gamma hatte recht, ich lebte mich schnell in meine neue Rolle ein. Und diese fraß den größten Teil meiner Zeit.
Wenn ich zurückdenke, glaube ich, daß ich in den Jahren im Schiff Delth einigermaßen erfolgreich vertrat. Doch später! Ich betrachtete, sobald wir uns auf Andymon eingenistet hatten, meine Aufgabe als beendet. Waren die Geschwister nicht reifer, selbständiger geworden? Hatten sie nicht gelernt, miteinander zu arbeiten, zu lernen? Und schließlich kann man Kommandant eines Schiffs sein, nicht aber eines Planeten. Und doch, vielleicht wäre manches Problem nicht oder nicht so gravierend aufgetreten, wenn ich beizeiten auf alle Entwicklungen geachtet hätte. Aber dies sind jetzt müßige Spekulationen, und die sollte ich Gamma überlassen.
Explosion auf Gedon
Die vierte Gruppe - von Mega und Alefth bis zu Vava und Zainth -kannte ich nur oberflächlich und hatte sie, die fünf Jahre Jüngeren, nie richtig beachtet. Sie hatten mit Eifer gelernt, die Totaloskope wie wir anderen benutzt, sie hatten uns bei der Konstruktion der Voraussonde unterstützt und waren uns bei genetischen Experimenten zur Hand gegangen. Wie hätte ich ahnen sollen, daß sie andere Wege suchen würden als wir, Wege, die ihnen weniger ausgetreten vorkamen, uns aber fremd blieben?
Gamma und ich gingen gerade zum Biolabor, als uns Fith, mit seinen langen braunen Armen gestikulierend, entgegenstürzte.
„Gut, daß ich euch treffe. Eine Explosion auf Gedon…“, stieß er erregt hervor und zeigte mit dem linken Arm in eine Richtung, in der sich der Mond aller Wahrscheinlichkeit nach nicht befand.
„Verletzte? Warum hat der Computer keinen Alarm ausgelöst?“ Ich schob ihn vor mir her zur Zentrale.
„Weiß nicht, es war seltsam, kein System scheint die Explosion registriert zu haben…“
In der Zentrale nahm Gamma Platz und befahl einen Havariecheck sowie die Überprüfung der Positionen unserer Geschwister. Alles war völlig in Ordnung. Auf Gedon befand sich die gesamte vierte Gruppe.
„Aber ich habe es doch gesehen“, beharrte Fith, „etwas muß explodiert sein, eine Rakete vielleicht…“ Er hob beschwörend beide Hände empor.
„Schon gut“, sagte ich, „kein Grund zur Aufregung, jetzt erzähl uns mal genau…“
„Also, ich saß hier, hatte Gedon auf dem Bildschirm, und plötzlich ein heller Blitz.“
„Wir können uns die Bilder ja noch einmal ansehen, sie werden doch gespeichert“, sagte Gamma.
Gedon stand als graugelbe Sichel vor dem Hintergrund der Sterne. Über die Hälfte des Mondes lag im Schatten. Wir warteten und schauten. Nichts passierte. Fith wurde immer nervöser, da geschah es endlich: Ein winziger Punkt am Schattenrand des Mondes überstrahlte für Sekundenbruchteile das Bild. Gamma spielte die Aufzeichnung zurück und zeigte die Explosion noch dreimal.
„Aber das muß dort jemand bemerkt haben“, sagte Fith, nun sichtlich ruhiger.
Wir riefen Gedon, es dauerte eine Weile, bis man sich meldete. „Hier spricht Daleta. Was wollt ihr denn?“ Ihr asiatisches Gesicht, dem Gammas sehr ähnlich, nur etwas breiter, war maskenhaft starr. Beim Sprechen bewegte sie die Lippen kaum.
„Hallo, Daleta, wie geht’s euch auf Gedon? Wie kommt ihr mit der dritten Ausbaustufe voran?“
„Planmäßig.“ Sie verschwendete kein überflüssiges Wort an mich.
„Da war doch eine Explosion, erst vor ein paar Minuten? Habt ihr sie denn nicht bemerkt? Alles in Ordnung bei euch?“
„Alles in Ordnung. Eine Explosion?“ Sie zögerte einige Sekunden. „Ja, Lastrakete RG 786.03. Ein Versagen der Reaktor Steuerung.“
„Aber…“ Ich biß mir auf die Zunge, vor drei Minuten war der Havariecheck negativ ausgefallen, das bedeutete, daß auch keine Lastrakete… „Aber, bist du dir auch sicher? Und euch ist wirklich nichts passiert?“
„Ja, natürlich nicht. Ist das alles?“
„Genügt das etwa nicht?“
„Gut.“ Ohne ein Wort des Grußes schaltete Daleta die Verbindung ab.
„Die spinnt“, sagte Gamma und zog besorgt die Brauen hoch. Sie ließ einen neuen Havariecheck durchführen. Diesmal wurde die Explosion einer Lastrakete angezeigt. Gamma gab sich damit nicht zufrieden. Der Elektronenstrahl schrieb die lange Liste unserer Lastraketen auf den Display. Die meisten noch intakt, viele unterwegs. Einige ausrangiert, zerlegt oder auf Andymon verschollen.
Und dann geschah vor unseren Augen etwas Seltsames. Die Beschreibung einer längst auseinandergenommenen Rakete wurde gelöscht, einen Augenblick gähnte ihre Zeile leer, dann erschien eine neue Eintragung. Unter der gelben Registernummer formten sich Worte, eine andere Rakete wurde beschrieben — und ihre Explosion vor wenigen Minuten. Wortlos schauten wir zu.
Leise sagte Gamma: „Diese Daleta verdresche ich eigenhändig. Uns so eine Lüge aufzutischen.“
Ich lachte, meine Gamma und jemanden übers Knie legen… Dann entschied ich mich. „Wenn sie die Computer manipuliert, dann müssen wir eben persönlich nachschauen. Einverstanden?“
Fith war aufgesprungen. „Darf ich mit?“ fragte er, und sein schlaksiger Körper geriet in Bewegung.
„Was heißt hier mitkommen?“ Ich grinste ihn an. „Das ist doch dein Fall oder etwa nicht?“
Fith steuerte stolz die Mondfähre. Der Flug dauerte mir zu lange. Ich überlegte, was die Ursache der Explosion gewesen sein könnte, wir hätten das Spektrum auswerten sollen. Dann dachte ich an Daleta, sie hatte sich so seltsam benommen — wie eine Figur aus einem Computerfilm. Ich fühlte es: Die vierte Gruppe war in Gefahr.
Wir flogen dicht über der in Nacht versunkenen Oberfläche Gedons und so langsam, daß wir die menschlichen Bauwerke, aus denen hier und da Licht sickerte, von den zerklüfteten Felsen des Mondes unterscheiden konnten. Das Teleskop bestätigte den Eindruck der Bewegung: Roboter waren dabei, Masten zu errichten, die Struktur eines Minisynchrotrons fiel auf, überall das Filigranwerk der Technik. Beim Vergleich mit einer älteren Karte des Trabanten staunte ich über das Ausmaß der Veränderungen. Ein Automat wies uns ein, und wir landeten. Niemand schien sich um uns zu kümmern.
Unsere Rakete stand in einer Reihe von Lastraketen, die entladen wurden. Drei Roboter sprangen aus der Ladeluke und eilten sofort zielstrebig auf die Gebäude zu, um an die Arbeit zu gehen. Große Blöcke komplizierter Apparaturen, lange Kolonnen von Containern.