Ich rief Samecha zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich herauszufinden versuchte, warum sie den Beschluß der Geschwister so wenig respektiert hatte. Schließlich war ja damals um der Sicherheit willen so entschieden worden. Und wer sich gefährdete, gefährdete einen Teil unserer Gemeinschaft.
„Beth, ich bin nicht so unwissend und leichtfertig, wie du annimmst“, antwortete Samecha überlegt. „Sag mir bitte, wie man sonst eine ein für allemal festgelegte und wissenschaftlich überholte Schranke überwindet? Auch du solltest etwas mehr Vertrauen in deine Kraft und Ausdauer haben, in deinen Erfindungsreichtum und dein Improvisationsvermögen.“
Ich lachte versöhnt und klopfte ihr auf den Rücken.
Heute bin ich sicher, daß wir ohne diese Einstellung, ohne diesen Pioniergeist, ja diese Verwegenheit, Andymon nie bezwungen hätten. Wer sich große Ziele setzt, muß nicht nur das nötige Wissen besitzen, er muß auch zu Risiken bereit sein. Und vielleicht ist diese Bereitschaft, die Brücken hinter sich abzubrechen und ins Ungewisse zu starten, das hervorragendste Kennzeichen unserer jungen Gemeinschaft. Ich hoffe, daß sie auch in ferneren und bequemeren Zeiten nicht verlorengeht.
Nachtschicht
Gamma und ich flogen mit der dritten Ablösung auf den Andymon. Zu dieser Zeit stand bereits ein festes Gebäude, das war Unterkunft, Leitstelle, Minifabrik, Lager - alles in einem. Nach und nach wuchs um dieses Gebäude die künftige Siedlung, unsere Heimstatt auf Andymon. Auch eine Landebahn für Gleiter und Flugzeuge war schon errichtet und einige Hangars. Tag und Nacht hatten die Geschwister gearbeitet. Achtundzwanzig irdische Stunden mißt die Umdrehung Andymons, kein Wunder, daß uns Mensehen die Nachtschicht lang wurde.
Wir standen am Fenster, die Kontrollpunkte interessierten uns nicht mehr, grüne Anzeigen, monotone Berichte erfolgreichen Fortschreitens der Arbeiten. Die Geschwister der Tagesschicht schliefen, die Zeit verstrich mit trister Langsamkeit. Wir schauten hinaus und konnten doch nichts erkennen. Ströme von Wasser flossen die Scheibe hinab, dahinter war es dunkel, nur hier und da quollen Lichtschemen auf und zergingen wieder. Einer der trockensten Plätze ganz Andymons — wer wollte das glauben?
„Man könnte trübsinnig werden“, sagte Gamma, „selbst die Roboter arbeiten bei diesem Wetter langsamer.“ Sie lehnte sich an mich, und ich stützte mich am Plastrahmen des Fensters ab. Monoton summte die Elektronik. „Ich werde immer müder, dabei kann ich nicht schon wieder ein Anregungsmittel nehmen.“
Sacht strich ich Gamma über das Haar. Andymon war weder erregend noch fesselnd, Andymon war trostlos. Ohne Abwechslung, ein Einerlei von Regen und Sturm, von Schlamm und Geröll.
„Gehen wir spazieren“, schlug ich zu meiner eigenen Überraschung vor. Auf ihren fragenden Blick erklärte ich: „Ich kann nicht länger hier herumsitzen.“
Gamma brachte nicht den Willen auf, mir zu widersprechen. Sie folgte mir in den Umkleideraum, dessen Boden von Schlammkrusten und Dreckbrocken bedeckt war. Es kostete soviel Mühe, die Station immer sauber zu halten. Wir zogen uns aus, nahmen dann unsere ehemals mattsilbernen Gummianzüge aus dem Regal. Beim Überstreifen sprangen Plättchen getrockneten Schlamms ab. Wir fuhren in Handschuhe und Stiefel, schoben die Haube über den Kopf, legten Ohrhörer, Brille und Atemmaske mit Mikrofon an.
„Hallo“, sagte Gamma.
„Hallo“, echote ich, die Funkverbindung war überprüft.
Ich faßte Gammas Hand und drückte auf den Knopf der Schleusentür. Sekunden später standen wir im Freien.
Prasselnder warmer Regen floß über unsere Körper. Zu warmer Regen, der unsere Gliedmaßen erschlaffen ließ. Im Licht der Helmscheinwerfer funkelten die Tropfen wie ein dichter blitzender Vorhang. Langsam stapften wir durch den zähen, glucksenden Schlamm. Wir konnten keine zehn Meter weit sehen, im Notfall würde uns der Peilsender der Station leiten. Einzelne Böen, schmerzhaft und laut, peitschten uns fast zu Boden.
Wir liefen auf einen verschwommenen Lichtschein zu. Ich stolperte, fiel der Länge nach hin, der fließende Schlamm hatte eine Rinne in das leicht abschüssige Terrain gegraben. Den Schmutz, der mich von oben bis unten bedeckte, spülte der Regen wieder ab. Der Schreck hatte uns etwas aufgemuntert.
Ich blickte den dahinfließenden Dreckmassen nach. Irgendwo jenseits unseres Hochplateaus mußten sie sich zu gewaltigen gelbbraunen, reißenden Strömen vereinigen, die durch das tiefer gelegene Land ihr kilometerbreites Bett gruben: die heute weithin sichtbaren Urstromtäler Andymons.
Dann standen wir vor einer unvollendeten Metall- und Plastkonstruktion, die ein Dutzend Hochdrucklampen grell beschienen. Der Regenvorhang verwischte die harten Konturen und verwandelte die aufragenden Pfeiler in einen bleichen, kahlen Wald.
„Ich finde das häßlich“, sagte Gamma und wechselte ihren Standort, um nicht bis zum Knie in den aufgeweichten Boden einzusinken. „Wir setzen grobschlächtige Klötze hin, die genauso trostlos sind wie der Planet.“
„Noch“, erwiderte ich. „Wenn wir erst einmal eine Grundlage haben und wenn das Klima sich endlich eingespielt hat, dann lohnt es sich, nach ästhetischen Prinzipien zu bauen.“
„Schau dir doch den Sumpf an“, Gamma hob die Hand ein wenig und wies auf die Fundamente der Konstruktion, die ein grünschimmernder Brei umströmte, „wenn man unvorsichtig ist, reißt es einem sogar die Beine weg — es ist für mich völlig unvorstellbar, daß es hier einmal anders aussehen wird.“
Sie gähnte. Auch ich war so schläfrig, daß ich hätte hineinsinken mögen in die warmen, weichen Massen, die alles überschwemmten.
Es war uns damals noch nicht bekannt, daß gerade dieser mit stickstoffixierenden Bakterien und Algen angereicherte Schlamm, der eklige Urschleim, wie wir ihn nannten, sich später in fruchtbaren Humus verwandeln würde.
Mühsam rafften wir uns auf und stapften langsam weiter. Unsere Beine ermüdeten bald. Schweiß sammelte sich unter meinem Gummianzug, es kribbelte.
Durch das Prasseln des Regens drangen undeutliche Geräusche. Wir liefen auf sie zu. Unter einer großen, schräg gespannten Plastplane entluden Roboter einen Lastgleiter. Dort war es trocken, ein niedriger Damm schützte das Gelände vor den Schlammfluten. Nur gelegentlich tropfte Kondenswasser herab.
Wir beobachteten die exakten Bewegungen der Roboter eine Weile. Mit ihren drei zangenbewehrten Armen reichten sie sich schwere Container zu und stapelten sie. Vielleicht enthielten sie die lange versprochenen Möbel. Die Roboter hatten ihre drei Beine eingezogen und ruhten auf den konischen Unterteilen. Ich zählte nur vierzehn Stück. Zwei fehlten. Einen fanden wir wenige Minuten später. Er stand draußen, mitten im strömenden Regen und zuckte mit dem ganzen metallischen Körper. Seine drei Zangen wirbelten um den plumpen, spitz auslaufenden Kopf. Sie bewegten sich so schnell, daß wir nur ein unregelmäßiges Blitzen wahrnahmen.
„Der hat durchgedreht“, flüsterte Gamma, „oder träume ich schon?“
Vorsichtig gingen wir einige Schritte näher. Den Kopf des Roboters traf kaum ein Tropfen.
„Stopp!“ schrie ich den Roboter an.
In Sekundenbruchteilen erstarrte er mit erhobenen Zangen.
„Was ist los?“ fragte ich.
Statt einer Antwort setzte der Roboter seinen Tanz fort. Regentropfen blitzten wie fallende Sterne im stroboskopischen Licht seiner Scheinwerfer.
„Stop!“
Wieder hielt er mitten in der Bewegung inne.
„Ich weiß nicht, ob wir uns ihm nähern dürfen. Der verwandelt uns in Mus!“
Ich stapfte zum Lastgleiter und holte eins der angeforderten kleinen Plasmaschweißgeräte. Als ich es aufbaute, versank es fast im Morast. Ich stellte die Fokussierung ein und zielte auf den dicken Leib des Roboters.
Gamma legte ihre Hand auf das Gerät. „Nein“, sagte sie schwerfällig, „wir müssen wissen, was für ein Fehler das ist. Vielleicht tritt er häufig auf? Vielleicht liegt es an der Programmierung?“