Nun streiften auch Gamma und ich die Masken ab. Ein erster prüfender Atemzug: Andymon stank, stank, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich hustete und küßte dann glücklich Gamma, wieder hatten wir Andymon einen entscheidenden Sieg abgetrotzt. Er konnte uns mit einer ausgefallenen Duftnote nicht abschrecken.
„An den Gestank gewöhnt ihr euch schnell“, sagte Ilona, die, ganz wie sie es liebte, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stand, „der ist nur am ersten Tag schlimm.“
„Wir werden schon nicht die Nase rümpfen, wir haben ja keinen besseren Planeten“, rief Xith.
„Ilona ist mir zu unvorsichtig“, flüsterte Gamma mir zu, „ganz allein so einen Selbstversuch zu unternehmen.“
„Und sie spielt die Probleme herunter.“ Ich streichelte Gammas Wange, der Wind spielte mit unseren Haaren, es war so ganz anders als im Naturpark. „Ich möchte kein Spielverderber sein“, sagte ich, „aber langfristige Schädigungen kann sie nach wenigen Wochen der Tests bestimmt nicht ausschließen.“
Endlich kam der Picknickkorb zur Geltung. Wir setzten uns im Kreis und aßen. Leider hatten all die herrlichen Sachen, Früchte frisch aus dem Schiff, nicht den bekannten Geschmack. Andymons penetrante Luft übertünchte jedes Aroma.
Schräg hinter mir hörte ich Etas unnachahmliches prustendes Lachen. Durch den sich sofort einstellenden Gedanken an Zeth fand ihre Fröhlichkeit in mir keinen Widerhall. Ich drehte mich zu ihr um und sah, wie sie mit den Fingern im Boden bohrte — und einen Kern in das Loch steckte, einige Krumen darüber schob.
Sie merkte, daß ich sie beobachtete, und lächelte mich an. „Schließlich soll auf Andymon etwas wachsen“, rechtfertigte sie sich.
„Überall, wo wir hinkommen und geeigneten Boden finden“, erklärte Xith ernsthaft, „überall, wo wir hinkommen, säen wir.“ Er zog einen Beutel aus seiner Umhängetasche. „Der ist voller Samen, die Kleinen im Schiff schicken sie uns gern.“
„Früh gesät ist halb geerntet“, setzte Eta fort, „wir können nicht zeitig genug damit beginnen.“
Ich nickte, obwohl ich nicht wußte, ob auch nur ein einziges dieser Samenkörner keimen, wachsen und sich vermehren würde. Neue Testreihen waren notwendig, neue Experimente, neue Arten, Jahre, Jahrzehnte dauernde Züchtung…
„Habt ihr auch notiert, was ihr alles sät?“ fragte Gamma die beiden. „Wir wollen doch die größtmögliche Kontrolle über die Biosphäre Andymons haben.“
„Natürlich, wir sind nicht dümmer als ihr.“ Xith liebte es nicht, wenn man ihn kontrollierte.
Später standen wir allein auf einem anderen Hügel und schauten hinaus über das tote schaumige Meer voller Kalziumionen und Kohlenwasserstoffe, voller Chloride und Schwefelverbindungen.
„Auf der Erde, wenn es sie überhaupt gibt, würde das Meer schwarzes Holz an den Strand spülen und Seetang, Muscheln, kleine Krabben. Aber hier, da siehst du höchstens mal einen weißen Fleck am Ufer, bis ihn der nächste Regen wegspült: kristallisiertes Salz der Brandung.“
Ich hörte Gamma schweigend zu, durch den allgegenwärtigen Geruch wehte uns der Wind auch eine Brise salziger Luft ins Gesicht. Ich hatte nicht die mindeste Vorstellung, ob, wie und wann es uns oder späteren Generationen gelingen würde, auch die Ozeane, auf der Erde die Wiege des Lebens, zu zähmen, lebentragend zu machen. Oder würden wir die Jahrmillionen warten müssen, in denen sich Salzstöcke bilden, tote Meere verdunsten und anderswo weniger lebensfeindliche sich ansammeln?
„Wenigstens die Seen, die kleinen Seen, die neuerdings in den Schlammpfuhlen und in Bodensenken entstehen, wenigstens sie werden sauberes Wasser haben.“
Gamma hatte wieder dem Gang meiner Gedanken folgen können.
Eindringen in fremde Welten
Es war an dem Tag, an dem wir in ein neues Provisorium umzogen. Andymon-City war um ein weiteres Gebäude gewachsen, eine kleine Produktionsanlage für synthetische Nahrung, eine für nanoelektronische Bauelemente und ein langes, einstöckiges Wohnhaus, das später in eine Herberge verwandelt wurde.
Gamma und ich erhielten anstelle des einen Raumes im alten Stationsgebäude zwei größere. Ein Kleintransporter konnte all unsere Habseligkeiten befördern. Wir richteten uns ein, stellten Bett, Schaukelstuhl, Kleiderschrank und persönliche Programmbibliothek auf.
Gerade befestigte Gamma eine Farbfotografie des Kristallbaums an der Wand, da klopfte es an der offenstehenden Tür.
Alfa kam herein. „Ich brauche euren Rat.“
Hinter ihr schob sich Psila durch die Tür, in ihrem rundlichen Gesicht zuckte es nervös.
Gamma sammelte unsere Overalls vom Bett, die Besucherinnen konnten sich setzen.
„Psila hat mir erzählt, daß Psith das Totaloskop seit vier Tagen nicht mehr verlassen hat.“
Psila nickte und nestelte mit ihren groben Händen am nicht mehr ganz weißen Gürtel ihrer Khakihose. „Ich habe Angst um ihn. Er war wie verwandelt, wißt ihr, wir wollten uns etwas für die Ozeane ausdenken, aber es gibt da einfach keine Möglichkeit. Mit der Atmosphäre war es viel einfacher; in der trüben Suppe kann eben nichts leben. Er pfeift auf Andymon, hat er gesagt, und daß er nichts mehr von Andymon sehen will und auch nichts mehr von mir, ich verstünde ihn ja doch nicht.“ Sie begann zu schluchzen.
Alfa zog sie liebevoll an sich und strich ihr beruhigend über das schwarzglänzende Haar. „Wir müssen etwas unternehmen.“
In den folgenden Stunden sprachen wir zu viert Psiths Charakter durch. Er mußte labiler sein, als wir vermutet hatten. Die langen Jahre im Orbit, ohne ein Nahziel vor Augen, hatten Psith aus der Bahn geworfen. Und nach Psilas Worten beherrschte er die Kunst, sich stets Aufgaben zu suchen, die man nicht in einem Ansturm lösen konnte. Aber für ausdauernde Arbeit im Kreis der Geschwister fehlte ihm die Geduld.
Uns war klar, daß wir sein Totaloskop nicht abschalten konnten, ohne ihn psychisch zu verletzen. Es gab nur eine Möglichkeit: Psith mußte in seiner Scheinwelt überzeugt werden, diese freiwillig zu verlassen. Wir ließen den Computer errechnen, wer die größten Erfolgschancen hätte. Die Wahl fiel auf mich.
Gamma bestand darauf, daß ich erst schlief und mich auf jegliche Weise stärkte. In der Zwischenzeit schlossen sie mein Totaloskop an das von Psith an.
Am Morgen, nach einem kräftigen Frühstück, klärte mich Gamma über ihre Bedenken auf. „Psith ist eine Art Gott in seiner Welt. Er hat sein Totaloskop so manipuliert, daß sein Wille die Illusion absolut bestimmt. Und vielleicht ist er nicht mehr ganz normal. Ich habe Angst, daß dir etwas zustoßen könnte. Natürlich kann er deinen Körper nicht töten, aber er will wahrscheinlich deinen Geist in seine Gewalt bekommen. Paß auf dich auf!“
Ich küßte Gamma und sagte zuversichtlich: „Psith ist mir die Gefahr wert.“
Dann stieg ich in das Totaloskop. Schnell waren alle Adapter angelegt. Ich sammelte mich und gab den gedanklichen Befehl.
Zuerst begriff ich gar nichts. Farben umschwemmten mich, Formen, diffus und vibrierend, trieben auf mich zu und zerplatzten. Ich stürzte und löste mich auf. Karminrote Schemen tanzten zu wilden Klängen. Linienbündel drifteten von Horizont zu Horizont. Eine abstrakte Welt. Natürlich! Hatte nicht Psith von abstrakter Kunst geschwärmt? Auch die Musik klang in meinen Ohren abstrakt und dissonant. Allmählich überwältigte mich die Schönheit des Empfundenen. Ein Farbklecks unter Farbklecksen, vibrierte und zerplatzte ich, floß in glühendes Lavarot, erstarrte zu eiskaltem Stahlblau. Mächtige Takte erschütterten mich, grelle Töne warfen mich durch sonnenhelle Zackengitter, ein Baßbrummen verteilte mich über eine rotbraune Ebene. Das ging eine Weile so. Bis ich mich meines Auftrages entsann. Zeit hatte ihre Bedeutung hier verloren. Ich sagte mir: Noch ein wenig tummeln, bunt und ohrenbetäubend, doch ich begriff schließlich, daß gerade dies Psiths Absicht sein mochte. Der glaubte wohl, mich allein mit Farben und Tönen betören zu können!