„So armselig komme ich mir gar nicht vor“, revoltierte Gamma.
Wo ich Andymon mit Maschinen und Energie bezwingen wollte, setzten sie ihre Leiber ein, wollten sie sich ihn so aneignen wie die Urmenschen die Erde. All meine Prognosen von der Zukunft Andymons waren damit hinfällig geworden, papierne Szenarien, die ewig Planspiele bleiben würden. Was nutzte es, soviel vorherzuberechnen, wenn die Geschwister eigene, doch irgendwie irrationale Wege gingen? Alle projektierten Soziologien verloren ihren Wert, alle Argumente wurden belanglos.
Durch die transparente Kuppel sah ich, wie ein weiterer Kopter landete. Alfa und Zeth waren angekommen. In knappen Worten klärte ich sie über die phantastische Entwicklung auf.
Zeth machte sich ganz gegen seine Gewohnheit sofort Luft. „Was denkt ihr euch nur? Wir rackern uns ab, richten Andymon ein, schuften Tag und Nacht, und ihr, ihr habt nichts Besseres zu tun, als Kinder zu bekommen, denkt nur an euch und Nachwuchs. Hättet ihr denn nicht wenigstens warten können, bis wir Andymon einigermaßen fertig haben? Statt dessen kriecht ihr unter eine Kuppel…“
„Andymon wird nie fertig“, wandte Szadeth ruhig ein, doch Zeth redete einfach weiter. Und er sprach manches taktlos aus, was auch mir durch den Kopf gezogen war.
„…denkt wohl, das ist eure Privatangelegenheit? Außerdem seid ihr noch viel zu grün dazu, ihr versaut euch vielleicht das ganze Leben damit. Die Inkubatoren und Rammas können das viel besser.“
Alfa legte ihm beruhigend ihre Hand auf die Schulter.
Er hielt eine Sekunde ein, schaute sie kurz an, zuckte mit den Achseln. „Na, ist doch wahr, wenn sie fühlen wollen, wie es ist, brauchen sie’s nur im Totaloskop durchzuspielen. Da vergeht ihnen die Lust aufs Kinderkriegen schon.“
„Zeth, Zeth, du mußt ja nicht…“ Szina betonte das „du“ so deutlich, daß Zeth verstummte. Wir Männer hatten nach ihrer Auffassung hier nicht mitzureden. Trotzdem brachte sie eine erstaunliche Geduld mit ihm auf. „Weißt du, Zeth, die Totaloskope sind uns nicht genug. Außerdem geht es uns nicht um die Geburt, sondern um die Kinder, eigene Kinder. Wir wollen Realität, die volle Wirklichkeit mit allem Schmerz und aller Freude. Wir wollen voll Mensch sein, verstehst du?“
Ich schaute Alfa an, die einen recht hilflosen Eindruck machte, unfähig, Szina zu verstehen oder zu verurteilen. Gamma sah finster nachdenklich vor sich hin.
Wir gingen wieder den Pfad entlang, die kleine Welt unter der Kuppel war viel rauher, viel steiniger, viel weniger bunt als der riesige Naturpark des Schiffs, aber auch sie würde Kindern gefallen. Wir schwiegen eine Weile. Von einem der Bäume flogen Vögel auf, zogen eine Schleife, ließen sich anderswo nieder.
„Die Kinder aus dem Schiff könnten auch hier leben“, schlug Szadeth vor, „Platz genug ist, zumindest für die Kleineren.“
Jetzt kamen die Vögel direkt auf uns zugeflogen. Ich wußte nicht, zu welcher Art sie gehörten, aber das war belanglos. Es waren an-dymonische Vögel.
Während wir uns einer der Senken näherten, tauchte aus einem der Häuschen eine Gestalt auf, die ich aus der Entfernung nicht erkannte. Ohne uns zu begrüßen, verschwand sie wieder.
„Das wird Resth gewesen sein“, erklärte Szina, „er hält nichts davon, daß wir mit euch reden, er meint, man müßte euch vor vollendete Tatsachen stellen, nur die würdet ihr akzeptieren. Ja, er bekommt auch ein Kind, ich meine Pea. Mit Mema und Joth aus der fünften Gruppe sind wir zur Zeit drei Elternpaare.“
„Ihr habt euch also richtiggehend verschworen“, sagte Gamma mehr im Ernst als im Scherz. „Aber ich verstehe, wenn mehrere die Erfahrung zur selben Zeit machen, können die Kinder gemeinsam aufwachsen.“
„Genau“, fuhr Szadeth erfreut fort, „schon jetzt lernen wir zusammen Kinderpflege, Erziehung. Und wir haben beschlossen, daß wir alle drei Kinder als die eigenen betrachten. Wir werden abwechselnd auf sie aufpassen, und wenn sie ein Problemchen haben oder sich ungerecht behandelt fühlen, können sie zu jedem von uns kommen.“ „Wenn das mal klappt“, unterbrach ihn Zeth skeptisch und mit Bitterkeit. Ob er mit Eta das vierte Elternpaar abgegeben hätte?
Schließlich setzten wir uns in den Sand am Rande der flachen Senke, die bald der See füllen sollte. Gelben, feinkörnigen, sauberen Sand gab es auf Andymon kaum. Sie wandten viel Mühe auf, die Oase unter der Kuppel in ein bescheidenes Paradies zu verwandeln.
„Wir wollen unabhängig werden von der Technik des Schiffs“, rechtfertigte sich Szadeth auf eine nicht ausgesprochene Frage. Er schaute zu Boden und rieb die bloßen Füße gegeneinander, daß der Dreck abkrümelte.
Wir schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Gamma lehnte sich an mich, ich wußte, sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier aussehen würde, wenn erst einmal Kinder umhertollten. Zeth warf Steinchen in den noch nicht vorhandenen See. Ra, die Sonne Andymons, sank hinter einen entfernten Gebirgszug. Es war einer jener seltenen Momente, in denen man sie überhaupt sehen konnte, meist bedeckten schwere Wolken, in vielen Schichten übereinander, den Himmel. Das gelbrote Licht der Sonne brach sich in der Kuppel, ein phantastisches Spiel von Reflexen überflutete uns.
„Bleibt doch die Nacht bei uns“, bat Szina. Es kam ein Stück der alten Vertrautheit zwischen uns wieder auf. Doch ich brauchte Ruhe, um die Situation und ihre Konsequenzen zu überdenken.
Beim Abschied drängte mich Szina zu einer Stellungnahme, indem sie fragte: „Du unterstützt uns doch, nicht wahr, Beth?“
Ich sah in ihr ausdrucksvolles Gesicht. „Ja, braucht ihr meine Unterstützung überhaupt? Ich hatte andere Pläne von der Besiedlung Andymons. Das waren natürlich nur meine unverbindlichen Vorstellungen, die jetzt belanglos sind.“ Mit einer Kopfbewegung, einem kurzen Ruck wischte ich sie hinweg. „Ich bin dein Bruder, Szina. Und wenn du mir sagst, daß euch so ein Leben glücklicher macht, werde ich euch dabei helfen.“
Als wir eine Abschiedsschleife über der Kuppel flogen, lag sie schon im Schatten der Nacht.
Erst viel später auf dem Heimflug begann Gamma zu reden: „Weißt du, Beth, Szina und ihre Gruppe sind eine neue, andere Generation als wir. Wir waren die Pioniere, wir hatten nur das Schiff und Andymon im Sinn, das war unsere Aufgabe, und um die Art der menschlichen Kultur auf Andymon machten wir uns recht wenig Gedanken. Wir haben immer in kosmischen Maßstäben gedacht, Szina und die Gleichaltrigen denken in sehr menschlichen Bezügen: wir und unsere Kinder. Das ist ein notwendiger Übergang. Sie sind die wirklichen Siedler, die Siedler Andymons, sie werden sich über den Planeten ausbreiten, ihn erst richtig bewohnbar machen… Ach Beth, ist es nicht seltsam, sich vorzustellen, daß wir Pioniere, wir Ungeborenen, in den Augen der Nachfahren sozusagen aussterben werden?“
Ich schwieg. Es war beunruhigend, zu wissen, daß man in absehbarer Zeit seinen Zweck erfüllt haben und überflüssig geworden sein würde. Das war kein Gedanke, an den man sich schnell gewöhnte. Dabei sollte es eigentlich gleich sein, welche Sorte Mensch sich über Andymon ausbreitete, Geborene oder Ungeborene. Von kosmischer Warte aus zählte nur, daß intelligente Wesen einen weiteren Planeten eroberten.
„Und nicht den letzten und nicht nur Andymon“, setzte Gamma meinen Gedanken laut fort.
Rückkehr ins verlassene Schiff
„Eine Inspektion“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Gamma, „man soll den Automaten von Zeit zu Zeit persönlich auf die Finger schauen.“
Das war vielleicht tatsächlich nötig, denn seit wir den Computer im Schiff durch einen ebenso leistungsfähigen auf Andymon abgelöst hatten, seit wir auch die technologischen Kapazitäten des Schiffs weniger benutzten, flog es praktisch so autonom und unkontrolliert wie vor Alfas Geburt.