Fast ein Jahr hatte der Kampf gedauert nach einem Anfang, der nichts ahnen ließ.
Ich blickte über die nur von Andymon beschienene graue Steinwüste und dachte zurück, versuchte die Fehler zu finden, die entscheidenden Punkte. Zweifelsohne hatte ich zu lange gezaudert, Resth die Initiative überlassen. Die Begegnung mit den Mäusejägern hatte bewiesen, daß Resth die jüngeren Gruppen aufwiegelte, daß es höchste Zeit war… Doch die Tage verstrichen in Unschlüssigkeit, Resth blieb unerreichbar für mich, und viele kleine Dinge schienen wichtiger.
Dann plötzlich war er bereit zu einer Aussprache mit einem Vertreter aus jeder Gruppe. Gründlich bereitete ich mich vor, glaubte an ein sachliches Abwägen von Fakten, Argumenten, Möglichkeiten. Wir trafen uns in einer kleinen Halle, nicht unter freiem Himmel wie sonst — Resth hatte die Szene vorbereitet. Wie naiv war ich, daß ich mir vorstellte, in dieser Situation argumentieren zu können? Hatte ich immer noch nicht gelernt, wie Andymon uns verwandelte? Wir hatten die schützende Hülle des Schiffs verlassen, waren den Naturgewalten eines unwirtlichen Planeten ausgeliefert, stets in Bedrängnis, in ständigem Kampf ums Überleben. Mußte da nicht die Zwietracht in einen tödlichen Konflikt münden?
Blind war ich, obwohl gerade ich von psychologischen Problemen sprach: Wie sehr wir den Kosmos brauchten, daß wir uns nicht auf Andymon beschränken durften, denn so würden wir einer Robinsonneurose erliegen, uns nur tiefer und tiefer in den einen Planeten vergraben, alles um uns vergessen, alle Perspektiven verlieren, uns nur noch von den bitteren Notwendigkeiten des Tages leiten lassen, verbohrt und verbiestert uns in eine in sich geschlossene Zivilisation verwandeln, die ewig auf der Stelle tritt… Auch deshalb sei der Schiffbau nötig, als Projekt, an dem wir unsere Kräfte entfalten könnten, als Mittel, die anderen Planeten und Monde unseres Sonnensystems zu erschließen, die Tür in den Kosmos offenzuhalten…
Ich war beredt, durchaus, ereiferte mich wie nie zuvor.
Resths Antwort brachte mich zurück in die karge Halle. „Ich glaube, Beth über- und unterschätzt uns zugleich, er will immer gleich das gesamte Universum. Und wenn wir ein wenig von der Raumfahrttechnologie verlernen? Brauchen wir sie in den nächsten hundert Jahren? Wir werden nicht gleich durchdrehen, weil wir auf nur einem Planeten leben.“
„Ihr müßt Beth richtig verstehen“, erklärte er weiter, „er ist so fest von der Richtigkeit seiner Meinung und ihrer Bedeutung für die Zukunft Andymons überzeugt wie ich. Aber, wahrscheinlich, ohne daß er sie selbst kennt, schlummern in seinem Unterbewußtsein noch andere Absichten. Beth hat an Delths Seite gute Arbeit geleistet zu einer Zeit, als ein voller Einsatz kosmischer Technologien nötig war.
Diese beherrscht er ausgezeichnet. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nun ist es nötig, sich den Bedingungen Andymons optimal anzupassen. Dies kann er natürlich nicht akzeptieren, denn damit würden seine speziellen Fähigkeiten überflüssig.“
Ich sprang auf. „Du meinst, damit würde ich überflüssig.“
„Das habe ich nie behauptet.“
„Aber angedeutet.“
„Bitte, wir wollen uns nicht in persönlichen Anschuldigungen verlieren“, warf Samecha aus der fünften Gruppe ein. Resth hatte die Rollen gut verteilt.
„Wenn wir nun Schiffe bauen würden, blieben für Beth die guten alten Zeiten erhalten. Wer außer der ersten Gruppe sollte eine so komplizierte technische Aufgabe leiten?“
„Jetzt verteilst du Anschuldigungen, Resth“, sagte ich bitter, „so kommen wir nie zu einer sachlichen Diskussion. Außerdem meine ich nicht, daß wir uns an Andymon anpassen müßten. Ganz im Gegenteil!“
Meine Argumente verhallten ohne Resonanz. Und Resth wußte zu kontern. Wenn ihm die Argumente fehlten, attackierte er mich. Ein abgekartetes Spiel, einzig dazu inszeniert, um später lauthals verkünden zu können: Die Mehrheit hat Beths Vorschläge verworfen.
Es war nicht einmal eine Abstimmung nötig. Entrüstet ging ich, warf die Tür mit aller Kraft zu, doch der weiche Plast fing den Stoß ab.
Hätte ich damals aufgeben oder eine günstigere Situation abwarten sollen? Das Resultat wäre wohl stets meine Verbannung gewesen. Resth mußte den Störfaktor eliminieren.
Viel zu spät begann ich, den Streit offen auszutragen. Ich pendelte zwischen Andymon-City und Oasis hin und her. Ich sprach mit jedem, den ich traf, ich flog zum Fusor und zu den Minen. Ich versuchte Myth zu überzeugen und Szadeth, ich war auf den Pflanzungen, in den Wäldern, an den Seen, sosehr ich mich auch abhetzte, sosehr mich auch Gamma, Jota, Zeth unterstützten, das Ziel wich weiter und weiter vor uns zurück.
„Wir haben hier schon genug zu tun“, erklärte man mir. „Dein Streit interessiert uns nicht, es gibt Wichtigeres.“
„Wir schaffen es, auch ohne weitere Planeten zu erschließen. Das überlassen wir unseren Kindern.“
Manchmal glaubte ich aus ihren Antworten herauszuhören: Was sollen wir uns mit Resth anlegen! Wahrscheinlich hat er recht. Kann man uns denn nicht in Ruhe und Frieden arbeiten lassen?
Resth wartete seine Zeit ab. Dann schlug er zu. Er rief seine jüngsten Anhänger zusammen, die anderen konnten ihn auf dem Videoschirm sehen. Es war nur eine kurze Ansprache.
„Ich will euch warnen“, sagte Resth, „wir haben immer friedlich und kameradschaftlich miteinander gelebt. Jetzt gibt es einige, die wollen uns allen ihren Willen aufzwingen.“
Resth brauchte keinen Namen zu nennen, jeder wußte, daß ich gemeint war.
„Wir müssen einträchtig bleiben“, fuhr Resth fort, „nur so können wir Andymon trotzen, das hat schon Delth gewußt. Gerade jetzt, wenn wir eine erhöhte seismische Aktivität erwarten, ist das wichtig.“
Ich wollte aus meinem Haus laufen, allen die Wahrheit ins Gesicht schreien, ihnen sagen, daß sie von Resth manipuliert würden, daß er Delths Namen für seine Zwecke mißbrauchte. Doch ich blieb, an den Lippen nagend, sitzen.
In einem hatte Resth recht: Jetzt ein offener Kampf unter Geschwistern, jetzt gegenseitige Anschuldigungen und vielleicht Handgreiflichkeiten, jetzt ein Blockieren von Informationskanälen, ein Verlassen von Beobachtungsstationen, eine Überlastung der Computer mit taktischen Berechnungen — würde ein gefährliches Chaos bedeuten. Ich blieb grübelnd sitzen. Auch weil ich wußte, daß es Resth nie um persönliche Macht ging, sondern nur um das eine, um den schnellstmöglichen Aufbau eines stabilen ökologischen Systems auf Andymon. Hätte ich an seiner Stelle anders gehandelt? — Es war nur logisch, daß er mich nach überstandener Bebenwelle auf Ladym abschob.
Die Erinnerungen verflogen. Andymon stand inzwischen hoch am Himmel. Nun würde es sich erweisen, ob meine Befürchtungen zutrafen. Es konnte Dutzende von Generationen dauern, bis meine Geschwister aus der Enge der Tagesnot, einer auf das Wesentlichste beschränkten Existenz wieder zu sich finden würden, ein ganzes dunkles, verlorenes Zeitalter. Für mich bedeutete ein Leben ohne das großartige Ziel der Sterne nur ein dumpfes Vegetieren.
Der kleine rote Punkt, der schon immer in meinem Blickfeld glomm, stand jetzt dicht bei Andymon. Ganz in seiner Nähe löste sich ein winziges Fünkchen von dem Planeten. Ruhig zog es einen eleganten Bogen zwischen den Sternen. Gewann an Helligkeit, wuchs und wuchs. Verdeckte schließlich die gesamte Scheibe Andymons, ehe es mich in den bodenlosen gleißenden Strudel stürzte.
Benommen saß ich da, atmete stoßweise. Die Adapter des Totaloskops klebten an meinen Schläfen. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu entfernen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander wie Stäubchen im Wind. Würde so die Zukunft Andymons aussehen? Erwies sie sich als so schrecklich, wie ich sie empfand? Vielleicht fürchtete ich tatsächlich, nach der großen Umgestaltung Andymons keine Aufgabe mehr zu finden, den Sinn meines Lebens zu verlieren? Ging es mir überhaupt um die Schiffe? Was stieß mich denn so an Resth ab? Ja, das waren nicht sein Ziel und nicht einmal seine Überlegungen. Es war die Art der Logik, die dahintersteckte. Diese Unbedingtheit.