„Du überschätzt unsere Kräfte, Beth. Überlege, jetzt gibt es zwei Kinder auf Andymon, in einem Jahr werden es vielleicht ein Dutzend sein. Die Mädchen werden auf Jahre hinaus ausfallen. Wir werden Mühe haben, auch nur die primitivsten Lebensgrundlagen zu schaffen.“
Wer hatte denn überall für die sogenannte natürliche Geburt geworben? Niemand anders als mein Freund Resth! „Jetzt sprichst du von deinem Erfolg wie von einer Naturkatastrophe!“
Traurig blickte er mich an. „Schade, daß du mich absolut nicht verstehen willst.“
Was dachte er wirklich? „Ich weiß, daß wir alles sehr genau kalkulieren müssen“, sagte ich, ruhiger geworden, „aber dies ist nur die eine Seite, die andere, das sind unsere Umgangsformen… Du bringst mich nie dazu, aufzugeben, Resth, und morgen werden wir deine Methoden diskutieren. Ich sehe, daß es keinen Zweck hat, mit dir zu reden.“ Ich drehte mich demonstrativ um und öffnete die viereckige Luke.
„Das sehe ich auch“, sagte Resth unversöhnlich hinter meinem Rücken. „Zum Glück bin ich darauf vorbereitet. Halt, hör mir erst zu, bevor du hinunterkletterst! Ich habe ein Computerprogramm vorbereitet. Wenn ich auf diesen Knopf drücke, wird es an das Schiff gesendet. Dieses Programm befiehlt die Löschung sämtlicher den Schiffbau betreffenden Daten.“
Ich erstarrte. Die Leiter war nicht hoch, und doch wurde mir schwindlig. Krampfhaft hielt ich mich am kühlen Metall des Lukendeckels fest.
„Paß auf. Du setzt dich jetzt in den Stuhl und sprichst deinen Widerruf auf ein Videoband, nur zur Sicherheit. Nimm meinen Vorschlag an, Beth. Glaubst du, mir macht es Spaß, Informationen von unersetzlichem Wert zu löschen?“
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. „Du bluffst, Resth!“
Stufe um Stufe stieg ich hinab. Der Wind trieb feine Staubschleier über den nahen Boden.
„Du weißt, daß ich nicht bluffe!“ rief mir Resth durch die Luke nach.
Wie betäubt und ohne zurückzuschauen, ging ich auf den Kopter zu, kletterte hinein, startete, flog hoch und höher, bis Resths Kontrollwarte sich in einen winzigen Punkt verwandelte. Dann tastete meine Hand nach dem kleinen Bildschirmgerät des Kopters, das mit dem Computernetz verbunden war. Meine Finger tippten Fragen, Befehle ein. Mein Wille war dazu nicht nötig.
Der Display leuchtete auf, schnell schrieb der Lichtpunkt seine Botschaft:
TECHNISCHE BESCHREIBUNG DES SCHIFFS GELÖSCHT
KONSTRUKTIONSUNTERLAGEN GELÖSCHT BAUVARIANTEN GELÖSCHT
Ich starrte darauf wie ein Analphabet. Mein Gehirn weigerte sich, diese Ungeheuerlichkeit zu akzeptieren. Doch sooft ich auch weg-und wieder hinschaute, die Botschaft blieb dieselbe.
Alle Informationen, die für den Bau neuer Schiffe nötig sind, waren gelöscht. Millionen und aber Millionen Megabyte. Meine Pläne auf Jahre hinaus vereitelt! Wir würden ganz von vorn anfangen müssen, das Schiff System für System auseinandernehmen, bis zur letzten Schraube analysieren, Stücklisten anfertigen, konstruktive Tricks erkennen, uns Technologien ausdenken für die Produktion von hoch-integrierter Elektronik, von superfesten Materialien, von komplizierten Geräten, für den Zusammenbau der Einzelteile. Nein, unsere Pläne waren nicht für Jahre vereitelt, sondern für Jahrzehnte. Unvorstellbar, welche Forschungs- und Entwicklungsarbeit geleistet werden müßte. Im Schiff steckten wissenschaftliche und technische Erkenntnisse, die die Menschheit in Jahrhunderten gewonnen hatte. Tausende, vielleicht Millionen Menschen hatten jahrelang ihr Bestes gegeben, um die für das Schiff nötige Software zu erarbeiten.
Plötzlich kam ich mir unendlich allein und verlassen vor. Die Nabelschnur, die uns mit der Menschheit verbunden hatte, war gerissen. Wir waren gescheitert auf einem dreckigen Planeten irgendwo in der Unendlichkeit des Kosmos, ohne die Möglichkeit, uns wieder aus dem Staub zu erheben. Die Sterne waren fremd und unnahbar geworden.
Ein Dringlichkeitsruf des Videofons unterbrach den trüben Fluß meiner Gedanken. Als das Rot des Rufzeichens verglomm, tauchte ein Gesicht auf dem Schirm auf: Resth.
Verbissener Stolz und Müdigkeit zeichneten sein Gesicht, Spuren der unwiderruflichen Entscheidung, die er getroffen hatte. „Ich habe die Konstruktionsunterlagen des Schiffs vernichtet.“
Er sagte tatsächlich „vernichtet“ und nicht „gelöscht“. Ein Zittern lief durch meine Glieder.
„Damit ist das Projekt, Schiffe zu bauen, vereitelt.“ Er machte eine lange Pause. „Es ist mir nicht leicht gefallen, auf diese unabgesprochene und gewaltsame Weise in das Leben unserer Gemeinschaft einzugreifen“, fuhr er dann fort, „Aber es war notwendig. Andymon ist ein Planet, der einen eigenen Lebensstil erfordert, angepaßt an seine Besiedlung. Die erste Gruppe konnte dies begreiflicherweise nicht erkennen. Das Projekt, Schiffe zu bauen, war nichts als ein Versuch, den bisherigen, der künstlichen Welt des Schiffs entsprungenen Lebensstil fortzusetzen. Der im Widerspruch zu den Interessen von uns Jüngeren steht und im Widerspruch zu den Interessen von unseren Kindern, den kommenden Generationen.
Wir wollen nicht unser Leben aufopfern, um entlegene Sterne zu besuchen, was unseren fernen Nachfahren Vorbehalten bleibt. Andymon liegt uns näher. Ihr kennt meine Einstellung. Ich bin kein Freund einsamer Entschlüsse und rabiater Aktionen, aber eine andere Chance, uns aus der patriarchalischen Bevormundung durch die erste Gruppe zu lösen, gab es nicht. Es tut mir leid, technisches Wissen vernichten zu müssen, aber nur so konnte ich verhindern, daß es uns durch eine falsche Anwendung knechtet. Ich nehme an, daß viele von euch jetzt mit mir sprechen wollen. Ich werde morgen zum Amphitheater kommen. Dort werde ich euch zeigen, was unsere nächsten Aufgaben sind.“
Der Bildschirm erlosch, ich saß da und schloß die Augen. Meine Schläfen pochten, und ich hielt die Fäuste geballt. Nächstens stört jemanden der Lichtpunkt des Schiffs am Nachthimmel, und er sprengt es in die Luft. Möglich war alles. Reinster Anarchismus! Weg von der Technik, zurück zur Natur! Affen, zurück auf die Bäume!
Dann überwältigte mich wieder die Schwere des Verlustes. Der wilde Ärger wurder von Stumpfheit abgelöst. „Alles aus“, sagte ich, „was lohnt sich jetzt noch…“ Nur der Autopilot hielt den Kopter weiter auf Kurs.
Wie ich oder wie der Automat den Kopter bei Andymon-City landete, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur daran, daß Gamma - und mit ihr viele meiner Geschwister — mich auf dem Landeplatz erwartete.
„Beth“, sagte Gamma leise, „es gibt soviel mehr als die Schiffe. Du hast noch andere Aufgaben. Morgen, die Versammlung.“ Dann fügte sie flüsternd hinzu: „Und ich kann mir nicht vorstellen, daß der Schiffscomputer sich so einfach löschen läßt.“
Ich sah nichts, ich hörte nichts. Jetzt im Naturpark liegen, an nichts denken müssen, nur dem Lärm des Dschungels und der Wellen am kleinen See lauschen, keine Sorgen haben.
Amphitheater
Das Amphitheater befindet sich unweit von Oasis in einem natürlichen Felskessel. Heute, treffen wir uns dort an manchen schönen Tagen, um Musik zu hören, Schauspiele aufzuführen, um zu tanzen, miteinander zu feiern, überhaupt, um beieinander zu sein.
Damals war das Amphitheater noch nicht vollendet, nur wenig Technik stand im Hintergrund des Bühnenrunds, eine Projektionswand, Aufzeichnungsgeräte. Die Automaten hatten erst zwei Reihen steinerner Sitze aus dem Gestein gemeißelt, darüber bildeten die Felsen ein unüberschaubares Gewirr, zerschnitten von den Bändern der drei Treppen.
Wir von Andymon-City, die wir den weitesten Weg zurückzulegen hatten, trafen als erste im Amphitheater ein, suchten unentschlossen günstige Plätze und ließen uns schließlich rechts von der Bühne nieder. Warme und staubtrockene Luft, die kein Windhauch bewegte, füllte den Kessel aus.