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Unter Aufbietung all ihres Willens gelang es ihr schließlich, sich einzureden, daß die Polackin nicht gefaßt worden war, und dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig.

Aus dem Grunde ihres beklommenen Herzens stieg ein beschwörender Ruf auf, und unwillkürlich kamen längst vergessene Gebetworte über ihre Lippen: »Erbarm dich ihrer! Beschütze sie, heilige Jungfrau ... Ich gelobe es«, sagte sie sich immer wieder, »wenn meine Kinder gerettet werden, mache ich diesem entwürdigenden Zustand ein Ende. Ich löse mich von dieser Diebesbande. Ich werde mir meinen Lebensunterhalt mit meiner Hände Arbeit verdienen .«

Sie dachte an die Blumenverkäuferin auf dem Pont-Neuf und schmiedete Pläne. Die Stunden vergingen ihr weniger langsam.

Am Morgen gab es ein großes Schlüsselgerassel, und die Tür flog auf. Ein Aufseher leuchtete mit einer Fackel in die Zelle. Das Tageslicht, das durch die Schießscharte der zwei Meter dicken Mauer drang, war so kümmerlich, daß sich im Raum kaum etwas erkennen ließ.

»Da sind Marquisen, Leute«, rief der Aufseher erfreut. »Tummelt euch. Es gibt eine gute Ernte.«

Drei weitere Wächter traten ein und befestigten die Fackel in einem Ring an der Wand.

»Na, ihr Häschen, ihr werdet doch brav sein, wie?«

Und einer der Männer zog eine Schere aus seinem Kittel.

»Nimm deine Haube ab«, sagte er zu der Frau, die ihm am nächsten stand. »Puh! Graues Haar. Ein paar Sols kriegen wir immerhin dafür. Ich kenne einen Barbier an der Place Saint-Michel, der billige Perücken für die alten Gerichtsschreiber daraus macht.«

Er schnitt die grauen Haare ab, band sie mit einem Stück Schnur zusammen und warf sie in einen Korb. Seine Genossen inspizierten inzwischen die Köpfe der übrigen Gefangenen.

»Bei mir lohnt’s nicht«, sagte eine von ihnen. »Ihr habt mich erst kürzlich geschoren.«

»Sieh einer an, das stimmt«, sagte der Büttel jovial. »Ich erkenn’ es wieder, das Mütterchen. Haha! Man findet Geschmack an der Herberge, scheint mir!«

Einer der Wächter war bei Angélique angelangt. Sie fühlte, wie seine plumpe Hand ihre Haar abtastete.

»Heißa, Freunde!« rief er. »Hier ist ganz was Feines. Leuchtet ein bißchen, damit man sich’s genauer betrachten kann.«

Die Harzflamme beleuchtete das schöne kastanienbraune und gelockte Haar, das der Soldat eben löste, nachdem er die Haube abgenommen hatte. Ein Pfiff der Bewunderung erscholl.

»Das ist der wahre Jakob! Zwar keine blonde Tönung, aber es hat Glanz. Wir werden es dem Sieur Binet in der Rue Saint-Honoré verkaufen können. Dieser Meister schaut nicht auf den Preis, aber er schaut auf die Qualität. Tragt Eure Ungezieferpakete ruhig wieder heim<, sagt er mir jedesmal, wenn ich ihm Mähnen von weiblichen Gefangenen bringe. >Ich fabriziere keine Perücken mit Haaren, die schon wurmstichig sind!< Aber diesmal kann er nicht den Kostverächter spielen.«

Angélique legte beide Hände schützend auf ihren Kopf. Man konnte ihr doch nicht das Haar abschneiden. Es war einfach nicht auszudenken!

»Nein, nein, tut’s nicht!« flehte sie. Doch eine harte Faust packte ihre Handgelenke.

»Mach keine Geschichten, meine Schöne. Hättest nicht ins Châtelet kommen sollen, wenn du dein Haar behalten willst. Wir sind nun mal auf unsere kleinen Nebenverdienste angewiesen.«

Mit hartem Geklapper fuhr die Schere durch die golden schimmernden Locken, die Barbe erst kürzlich mit so viel Andacht gebürstet hatte.

Als die Soldaten gegangen waren, fuhr sich Angélique mit bebender Hand über ihren kahlen Nacken. Es kam ihr vor, als sei ihr Kopf kleiner und allzu leicht geworden.

»Flenn nicht«, sagte eine der Frauen, »das wächst nach. Vorausgesetzt, daß du dich nicht wieder schnappen läßt. Die Leute von der Wache sind nämlich ulkige Schnitter. Und Haar ist eine verdammt einträgliche Ware - bei all den Stutzern, die sich eine Perücke aufstülpen wollen.«

Die junge Frau knüpfte sich wortlos das Haubenband wieder um. Die Wirkung des Zwischenfalls verschwamm bereits. Es hatte ja im Grunde keine Bedeutung. Für sie war nur eins wichtig: das Schicksal ihrer Kinder.

Die Stunden verrannen grauenhaft langsam. Die Frauen um sie her äußerten sich wenig hoffnungsvoll. Sie erzählten Geschichten von weiblichen Gefangenen, die zehn Jahre lang eingesperrt geblieben waren, bis man sich ihrer wieder erinnert hatte. Und diejenigen, die das Châtelet kannten, schilderten die verschiedenen Verliese der düsteren Festung. Da gab es den Kerker »Aus ist’s mit der Bequemlichkeit« voller Unrat und Geziefer, in dem die Luft so verpestet war, daß keine Kerze brennen wollte; »Die Schlächterei«, so genannt, weil man dort die übelkeiterregenden Gerüche des benachbarten Schlachthauses einatmen mußte; »Die Ketten«, einen großen Saal, in dem die Gefangenen aneinandergekettet lagen; »Die Barbarei«, »Die Grotte«, dann »Der Brunnen« und »Die Gruft«, die die Form eines auf der Spitze stehenden Kegels hatte. Dort blieben die Gefangenen mit ihren Beinen ständig im Wasser; sie konnten weder aufrecht stehen noch liegen. Gewöhnlich starben sie nach vierzehn Tagen Haft. Vom »Verlies der Vergessenen«, dem unterirdischen Kerker, aus dem niemand zurückkehrte, sprach man nur mit gedämpfter Stimme.

Graues Licht drang durch die vergitterte Schießscharte herein. Es war unmöglich, die Uhrzeit abzuschätzen. Eine Alte entledigte sich ihrer ausgetretenen Schuhe, zog die Sohlennägel heraus und trieb sie umgekehrt, mit der Spitze nach außen, wieder hinein. Sie zeigte ihren Genossinnen die wunderliche Waffe und empfahl ihnen, ein gleiches zu tun, um sich gegen die Ratten wehren zu können, die sich in der Nacht einstellen würden.

Gegen Mittag öffnete sich indessen mit großem Getöse die Tür, und Hellebardiere ließen die Gefangenen heraustreten. Sie führten sie durch endlose Gänge in einen großen Saal, dessen Wände mit einer blauen Tapete mit gelben Linien bespannt waren. Im Hintergrund befand sich auf einer halbkreisförmigen Estrade eine Art Katheder aus geschnitztem Holz, hinter dem ein Mann in schwarzer Robe mit weißem Überschlag und einer weißen Perücke saß. Ein zweiter mit einer Pergamentrolle in der Hand hielt sich neben ihm. Es waren der Profos von Paris und sein Stellvertreter.

Die Frauen wurden vor die Estrade geschoben, nachdem sie an einem Tisch hatten vorbeigehen müssen, an dem ein Gerichtsschreiber ihre Namen eintrug.

Angélique blieb stumm, als man sie nach ihrem Namen fragte: Sie hatte keinen Namen mehr! Schließlich erklärte sie, sie heiße Anne Sauvert

- es war der Name eines Dorfs in der Umgebung Monteloups, der ihr plötzlich einfiel.

Die Verhandlung war denkbar kurz. Nachdem der Stellvertreter des Profosen jeder der Angeklagten ein paar Fragen gestellt hatte, verlas er die Namensliste, die ihm übergeben worden war, und erklärte, daß »alle genannten Personen dazu verurteilt seien, öffentlich gestäupt und alsdann ins Arbeitshaus verbracht zu werden, wo fromme Frauen sie lehren würden, zu nähen und zu Gott zu beten«.

»Wir kommen noch einmal gut davon«, flüsterte eines der Mädchen Angélique zu. »Das Arbeitshaus ist nicht das Gefängnis. Man schließt uns zwar dort ein, aber wir werden nicht bewacht. Es wird kein Kunststück sein, zu entwischen.«

Dann wurde eine Gruppe von einigen zwanzig Frauen in einen geräumigen Saal im Erdgeschoß geführt, und Büttel hießen sie sich in einer Reihe an der Wand aufstellen. Alsbald öffnete sich die Tür, und ein hochgewachsener, korpulenter Offizier trat ein. Er trug eine mächtige Perücke, die ein rotes Gesicht mit einem dicken Schnurrbart einrahmte. In seinem blauen Uniformrock, der sich über den fettgepolsterten Schultern spannte, mit seinem breiten Degengehänge, das den stattlichen Wanst einzwängte, seinem riesigen, mit dicken, vergoldeten Eicheln verschlossenen Kragen glich er ein wenig dem Großen Matthieu, wenn ihm auch dessen Gutmütigkeit und Jovialität fehlten. Seine Augen unter den buschigen Brauen waren klein und hart. Er trug Stiefel mit hohen Absätzen, die seine mächtige Gestalt noch größer erscheinen ließen.