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»Pst! Marquise der Engel! Vorsicht, geh nicht weiter.«

Die Stimme der Polackin hielt Angélique auf, als sie sich der Tour de Nesle näherte.

Sie wandte sich um und erblickte das Mädchen, das ihr aus dem verbergenden Schatten eines Torbogens heraus ein Zeichen gab.

Sie ging zu ihr.

»Nun, mein armes Herzchen«, seufzte die andere, »da haben wir uns also wieder. War eine schöne Rauferei! Zum Glück ist Beau-Garçon eben erschienen. Er hat sich von einem >Bruder< eine Tonsur schneiden lassen, und dann hat er den Leuten von der Polente gesagt, er sei Priester. Und während man ihn vom Châtelet ins Gefängnis des Erzbischöflichen Palastes überführte, hat er sich aus dem Staube gemacht.«

»Warum hinderst du mich, zur Tour de Nesle zu gehen?«

»Weil Rodogone der Ägypter mit seiner ganzen Bande dort ist.«

Angélique wurde leichenblaß. Die Polackin erklärte:

»Hättest sehen sollen, wie sie uns hinausbugsiert haben! Sie haben uns nicht mal Zeit gelassen, un-sern Kram mitzunehmen! Na, ich hab’ wenigstens deinen Koffer und deinen Affen retten können. Sie sind in der Rue du Val d’Amour, in einem Haus, in dem Beau-Garçon Freunde hat und seine Mädchen unterbringen will.«

»Wo sind meine Kinder?« fragte Angélique.

»Was Calembredaine betrifft, so weiß niemand, was aus ihm geworden ist«, fuhr die Polackin zungenfertig fort. »Gefangen? Gehenkt? Einige sagen, sie hätten gesehen, wie er sich in die Seine stürzte. Vielleicht ist er aufs Land geflohen .«

»Ich pfeife auf Calembredaine«, sagte Angélique verbissen. Sie hatte die Frau bei den Schultern gepackt und grub ihr die Nägel ins Fleisch.

»Wo sind meine Kleinen?«

Die schwarzen Augen der Polackin schauten sie hilflos an, dann senkte sie die Lider.

»Ich hab’s bestimmt nicht wollen . aber die an-dern waren stärker .«

»Wo sind sie?« wiederholte Angélique mit tonloser Stimme.

»Jean-Pourri, der Kinderhändler, hat sie genommen ... mit allen Knirpsen, die er finden konnte.«

»Hat er sie dorthin gebracht . in den Faubourg Saint-Denis?«

»Ja. Das heißt, nur Florimond. Cantor nicht. Er hat gesagt, Cantor sei zu dick, als daß er ihn an Bettler vermieten könnte.«

»Was hat er mit ihm gemacht?«

»Er . er hat ihn verkauft . ja, für dreißig Sols . an Zigeuner, die ein Kind brauchten, um es zum Akrobaten auszubilden.«

»Wo sind sie, diese Zigeuner?«

»Was weiß denn ich!« protestierte die Polackin und riß sich verärgert aus ihrem Griff. »Zieh deine Krallen ein, mein Kätzchen, du tust mir weh ... Was soll ich dir sagen? Es waren eben Zigeuner. Sie sind fortgezogen. Die Prügelei hat sie angewidert. Sie haben Paris verlassen.«

»In welche Richtung sind sie gezogen?«

»Vor knapp zwei Stunden hat man sie auf dem Wege zur Porte Saint-Antoine gesehen. Ich bin hierher zurückgekommen, weil ich so was wie ’ne Ahnung hatte, daß ich dir hier begegnen würde. Du bist ja eine Mutter! Eine Mutter kennt keine Hindernisse .«

Angélique wurde von verzweifeltem Schmerz gepeinigt. Sie glaubte den Verstand zu verlieren. Florimond in den Händen des üblen Jean-Pourri, weinend, nach seiner Mutter rufend! Cantor, den man für immer ins Ungewisse entführte!

»Ich muß Cantor suchen«, sagte sie. »Vielleicht sind die Zigeuner noch nicht allzuweit von Paris entfernt.«

»Du bist wohl nicht recht gescheit, mein Täubchen!«

Doch Angélique hatte sich bereits auf den Weg gemacht - und die Polackin folgte.

»Na, schön«, sagte sie, gutmütig resignierend, »gehen wir. Ich hab’ ein bißchen Geld. Vielleicht sind sie willens, ihn an uns zurückzuverkaufen .«

Es hatte den Tag über geregnet. Die Luft war feucht und roch herbstlich. Das Pflaster glänzte.

Die beiden Frauen folgten dem rechten Seineufer und verließen Paris auf dem Quai de l’Arsenal. Am Horizont, auf den sie zuschritten, öffnete sich der niedrige Himmel zu einem gewaltigen Riß von rauchig-dunklem Rot. Kalter Wind war mit dem Abend aufgekommen. Leute in der Vorstadt erzählten ihnen, sie hätten die Zigeuner an der Brücke von Charenton gesehen.

Sie schritten rasch dahin. Von Zeit zu Zeit zuckte die Polackin die Schultern und stieß einen Fluch aus, aber sie protestierte nicht. Sie folgte Angélique mit dem Fatalismus einer Frau, die, ohne zu begreifen, viel gewandert und vielen gefolgt ist, bei jedem Wetter und auf allen Wegen.

Als sie in der Nähe der Brücke von Charenton anlangten, bemerkten sie Lagerfeuer auf einer Wiese, die etwas tiefer als die Straße lag. Die Polackin blieb stehen.

»Das sind sie«, flüsterte sie. »Wir haben Glück.«

Ein Wäldchen mit alten Eichen hatte vermutlich das Völkchen dazu bestimmt, an dieser Stätte haltzumachen. Von Ast zu Ast gespannte Zeltbahnen stellten in der kühlen Regennacht den einzigen Schutz der Zigeuner dar. Frauen und Kinder hockten im Kreis um die Feuer. Man briet einen Hammel an einem dicken Spieß. In einiger Entfernung grasten die mageren Pferde.

Angélique und ihre Begleiterin traten hinzu.

»Sieh dich vor, daß du sie nicht reizt«, flüsterte die Polackin. »Du kannst nicht wissen, wie bösartig sie sind! Sie würden uns genau wie ihren Hammel aufspießen, ohne eine Miene zu verziehen, und man würde nichts mehr von uns hören. Laß mich mit ihnen reden. Ich verstehe mich ein bißchen auf ihre Sprache .«

Ein hochgewachsener Bursche mit einer Pelzmütze löste sich aus dem Schein der lodernden Flammen und kam auf sie zu. Die beiden Frauen machten das Erkennungszeichen der Gaunerzunft, der Mann beantwortete es hochmütig, worauf die Polackin den Zweck ihres Besuchs erklärte. Angélique verstand keines der Worte, die sie wechselten. Sie bemühte sich, vom Gesicht des Zigeuners abzulesen, was er dachte, aber es war mittlerweile so dunkel geworden, daß sie seine Züge nicht mehr erkennen konnte.

Schließlich holte die Polackin ihre Börse hervor; der Mann wog sie in der Hand, gab sie ihr zurück und entfernte sich zu den Lagerfeuern.

»Er sagt, er will mit seinen Leuten reden.«

Sie warteten eine Weile im eisigen Wind, der sich von der Ebene erhob, bis der Mann mit dem gleichen ruhigen und geschmeidigen Schritt zurückkam. Er äußerte ein paar Worte.

»Was sagt er?« fragte Angélique atemlos.

»Er sagt . daß sie das Kind nicht wieder hergeben wollen. Sie finden es schön und anmutig. Sie haben es schon liebgewonnen. Sie sagen, es sei alles so in Ordnung.«

»Aber das ist doch nicht möglich! Ich will mein Kind haben!« schrie Angélique.

Sie wollte zum Lager stürzen, doch die Polackin hielt sie energisch zurück. Der Zigeuner hatte seinen Degen gezogen. Andere kamen hinzu.

Die Dirne zog ihre Gefährtin zur Straße zurück.

»Du bist verrückt! Willst du unbedingt in dein Verderben rennen?«

»Das ist nicht möglich«, wiederholte Angélique. »Es muß etwas geschehen. Sie können Cantor nicht mit sich fortnehmen .«

»Reg dich nicht auf, so ist nun mal das Leben! Irgendwann einmal gehen die Kinder in die Ferne ... Ein bißchen früher oder später, das kommt aufs selbe raus. Ich hab’ ja auch Kinder gehabt. Weiß ich vielleicht, wo sie sind? Deshalb geht das Leben doch weiter!«

Angélique schüttelte den Kopf, um diese Stimme nicht hören zu müssen. Es mußte etwas geschehen .!

»Ich hab’ eine Idee«, erklärte sie. »Kehren wir nach Paris zurück.«

»Ja, kehren wir nach Paris zurück«, stimmte die Polackin zu.

Sie machten sich wieder auf den Weg. Angélique hatte sich in ihren schlechten Schuhen wundgelaufen. Ein feiner, dichter Regen rieselte herab. Der Wind klatschte ihr den durchnäßten Rock gegen die Beine. Sie fühlte sich der Erschöpfung nahe. Seit vierundzwanzig Stunden hatte sie nichts gegessen.