Angélique schluckte mühsam, aber sie wich nicht aus.
»Ich meine, daß ich tun werde, was Ihr von mir verlangt.«
Unversehens wurde sie von einer unsinnigen Angst erfaßt: daß er sie gar nicht mehr haben wollte, daß er sie zu armselig fand. Cantors und Florimonds Leben hing von den Gelüsten dieses Scheusals ab.
Und er wiederum sagte sich, daß er noch nie ein solches Mädchen gesehen habe. Ein göttlicher Körper! Ja, beim Himmel, das ließ sich unter der schäbigen Kleidung ahnen. Eine hübsche Abwechslung nach den fetten, verblühten Mädchen, die er gemeinhin in die Finger bekam. Aber vor allem das Gesicht! Er sah nie einer Dirne ins Gesicht. Das war uninteressant. Hatte er so alt werden müssen, um endlich zu entdek-ken, was das bedeutete, das Gesicht einer Frau?
Der Menschenfresser wurde nachdenklich, und Angélique zitterte in ihrer Angst. Endlich streckte er die Hände aus und zog Angélique ungestüm an sich.
»Was ich verlange«, sagte er mit verwegener Miene, »was ich verlange .«
Er zögerte, und sie ahnte nicht, wieviel Scheu in diesem Zögern lag.
»Ich verlange eine ganze Nacht«, schloß er. »Verstanden? Nicht nur so zwischen Tür und Angel, wie ich’s dir vorhin vorschlug ... Eine ganze Nacht.« Er ließ sie los und griff mit hämischer Geste nach seiner Pfeife.
»Das wird dich lehren, die Zierpuppe zu spielen! Also? Einverstanden?«
Unfähig, ein Wort hervorzubringen, gab sie nur ein Zeichen der Zustimmung.
»Sergeant!« rief der Hauptmann.
Einer der Männer stürzte herein.
»Die Pferde ...! Und fünf Mann. Tummelt euch!«
Der kleine Trupp verhielt in Sichtweite des Zigeunerlagers, und der Hauptmann erteilte seine Anweisungen: »Zwei Mann dort hinüber hinter das Wäldchen, falls sie auf den Gedanken kommen sollten, sich übers freie Feld davonzumachen. Du, Mädchen, bleibst hier.«
Instinktiv - wie Tiere, die daran gewöhnt sind, in die Nacht zu wittern - spähten die Zigeuner schon nach der Straße und schlossen sich zusammen. Der Hauptmann und drei der Büttel rückten vor, während die beiden anderen das befohlene Umgehungsmanöver ausführten.
Angélique blieb im Dunkel zurück. Bald schon hörte sie die Stimme des Hauptmanns, der dem Anführer der Zigeuner unter Zuhilfenahme wüster Flüche erklärte, daß alle seine Leute, Männer, Frauen und Kinder, sich vor ihm aufzustellen hätten. Man werde ihre Personalien aufnehmen. Es sei eine unumgängliche Formalität, der Vorfälle wegen, die sich am Abend zuvor auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain ereignet hätten. Danach werde man sie in Frieden lassen.
Beruhigt fügten sich die Nomaden. Im Laufe der Zeit hatten sie sich an die Scherereien gewöhnt, die ihnen überall auf der Welt von der Polizei gemacht wurden.
»Nun komm her, Kleine«, raunzte die Stimme des Hauptmanns.
Angélique lief hinzu.
»Das Kind dieser Frau befindet sich bei euch«, fuhr er fort. »Gebt es heraus, oder ihr werdet aufgespießt.«
Im gleichen Augenblick entdeckte Angélique Cantor, der friedlich an der braunen Brust einer Zigeunerin schlief. Wie eine Tigerin stürzte sie auf die Frau zu und entriß ihr den Kleinen, der zu weinen begann. Die Zigeunerin schrie auf, aber der Anführer der Horde gebot ihr Schweigen. Der Anblick der berittenen Büttel, deren Hellebarden angriffsbereit im Flammenschein blinkten, hatte ihm klargemacht, daß jeglicher Widerstand sinnlos war.
Indessen setzte er eine hochfahrende Miene auf und erklärte, man habe für das Kind dreißig Sols bezahlt. Angélique warf sie ihm zu, dann schlossen sich ihre Arme leidenschaftlich um den kleinen, runden und glatten Körper.
In Paris war es bei ihrer Rückkehr Nacht geworden. Die biederen Leute begannen ihre Fenster zu verschließen und ihre Kerzen zu löschen. Die Edelleute und Bürger begaben sich in die Schenken oder ins Theater. Vom Turm des Châtelet schlug es zehn Uhr.
Angélique ließ sich vorsichtig vom Pferd heruntergleiten und sah flehend zum Hauptmann auf.
»Laßt mich eine Unterkunft für mein Kind suchen«, sagte sie. »Ich schwöre Euch, daß ich morgen abend wiederkommen werde.«
Er setzte eine drohende Miene auf. »Hintergeh mich ja nicht. Es würde dir übel bekommen.«
»Ich schwöre Euch.«
Und da sie nicht wußte, wie sie ihn von ihrer ehrlichen Absicht überzeugen sollte, kreuzte sie zur Bekräftigung nach Gaunerart zwei Finger.
»In Ordnung«, sagte der Hauptmann. »Dieser Eid wird selten gebrochen. Ich erwarte dich . aber laß mich nicht zu lange schmachten. Und als Abschlagszahlung gibst du mir jetzt einen Kuß.«
Doch sie zuckte zurück und lief davon. Wie konnte er es wagen, sie anzurühren, während sie noch ihr Kindchen im Arm trug!
Die Rue de la Vallée-de-Misère lag gleich hinter dem Châtelet. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, erreichte sie den »Kecken Hahn«, durchquerte die Wirtsstube und betrat die Küche.
Barbe war wie üblich damit beschäftigt, trübsinnigen Gesichts einen alten Hahn zu rupfen.
Angélique legte ihr das Kind auf die Schürze.
»Da ist Cantor«, sagte sie keuchend. »Behalt ihn bei dir, behüt ihn. Versprich mir, daß du ihm nicht im Stich lassen wirst, was auch geschehen mag.«
Die stille Barbe drückte mit ein und der selben Bewegung den Kleinen und das Federvieh an ihre Brust.
»Ich schwöre es, Madame.«
»Wenn dein Meister Bourgeaud böse wird .«
»Dann lass’ ich ihn schreien, Madame. Ich sage ihm, daß das Kind mir gehört und daß ein Musketier es mir gemacht hat.«
»Gut so ... Jetzt, Barbe .«
»Madame?«
»Nimm deinen Rosenkranz.«
»Ja, Madame.«
»Und bete für mich zur Jungfrau Maria.«
»Ja, Madame.«
»Barbe, hast du Branntwein?«
»Dort auf dem Tisch .«
Angélique nahm die Flasche und trank einen tüchtigen Schluck. Sie war am Zusammenbrechen gewesen und mußte sich auf den Tisch stützen. Doch nach einer Weile kehrten ihre Kräfte zurück, und sie spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete.
Barbe betrachtete sie mit entsetzt aufgerissenen Augen.
»Madame . Wo ist Euer Haar?«
»Wie soll ich wissen, wo mein Haar ist?« fragte Angélique bissig. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als mein Haar zu suchen.«
Mit festem Schritt ging sie zur Tür.
»Wohin wollt Ihr, Madame?«
»Florimond holen.«
An der Ecke eines verwahrlosten Hauses thronte die Statue des Gottes der Rotwelschen: ein in der Kirche Saint-Pierre-aux-bœufs gestohlener Gottvater. Von hier aus gelangte man durch ein Gewirr häßlicher und stinkender Gäßchen in das Reich der Nacht und der Schrecken. Die Statue bezeichnete die Grenze, die ein einzelner Polizist oder Büttel nur unter Lebensgefahr überschreiten konnte. Die biederen Bürgersleute wagten sich ebensowenig dorthin. Was hätten sie auch in diesem namenlosen Viertel zu suchen gehabt, indem düstere, halbverfallene Häuser, aus Lehm zusammengebackene Hütten, ausgediente Kutschen und Karren, alte Mühlen und Zillen unbekannter Herkunft Tausenden von Familien als Wohnstätten dienten, die ihrerseits namen- und wurzellos waren und keine andere Zuflucht kannten als die der Gaunerzunft?
Angélique wußte, daß sie in den Herrschaftsbereich des Großen Coesre eingedrungen war. Der Gesang der Schenken war hinter ihr verklungen. Hier gab es keine Schenken, keine Laternen, keine Lieder mehr. Nichts als das Elend mit seinem Unrat, seinen Ratten, seinen streunenden Hunden .
Einmal war sie am Tage mit Calembredaine in dieses üble Viertel des Faubourg Saint-Denis gekommen. Er hatte ihr die »Residenz« des Großen Coesre gezeigt, ein merkwürdiges, mehrstöckiges Gebäude, das einmal ein Kloster gewesen sein mußte, denn es wies noch Glockentürmchen und kümmerliche Reste eines Kreuzgangs auf, die man durch Erdaufschüttungen, alte Bretter und Pfosten vor dem völligen Einsturz zu bewahren versucht hatte. Aber auch das Haus selbst war halb zerfallen und schien mit seinen klaffenden Wunden, seinen leeren, spitzbogenförmigen Fensterhöhlen wie geschaffen, dem König der Gauner als Palast zu dienen.