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Hier lebte der Große Coesre mit seinem Hofstaat, seinen Frauen, seinen Erzgehilfen, seinem Narren. Und hier war es auch, wo Jean-Pourri, unter den Fittichen des großen Meisters, seine lebende Ware lagerte - die gestohlenen Kinder legitimer und illegitimer Abkunft.

Dieses Haus bemühte sich Angélique wiederzufinden. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Florimond sich dort befand. Im Schutz der pechschwarzen Finsternis wanderte sie durch die Gassen. Die Gestalten, denen sie begegnete, interessierten sich nicht für diese zerlumpte Frau, die den Bewohnern der verwahrlosten Häuser glich. Wäre sie angesprochen worden, hätte sie sich aus der Affäre ziehen können, ohne Mißtrauen zu erwecken. Sie kannte Sprache und Gebräuche der Rotwelschen zur Genüge.

Indessen mußte sie sich davor hüten, erkannt zu werden. Zwei Banden, die mit der Calembredaines rivalisierten, bewohnten das Viertel. Was würde geschehen, wenn das Gerücht sich verbreitete, die Marquise der Engel triebe sich in der Gegend her-um?

Zur Sicherheit bückte sie sich und beschmierte ihr Gesicht mit Straßenschmutz.

Zu dieser Stunde unterschied sich das Haus des Großen Coesre dadurch von den übrigen, daß es erleuchtet war. Hier und dort sah man hinter den Fenstern den rötlichen Stern einer primitiven Nachtlampe schimmern, die aus einem mit Öl gefüllten Napf bestand, in den man als Docht einen alten Lappen getaucht hatte. Zudem war das Haus des Großen Coesre das lauteste. Hier versammelten sich die Bettler und Banditen wie einstmals in der Tour de Nesle. Man empfing die Leute Calembredaines. Da es an diesem Abend kalt war, hatte man alle Öffnungen mit alten Brettern verrammelt.

Angélique schlich sich an eins der Fenster und lugte durch einen Spalt zwischen zwei Latten. Der Saal war überfüllt. Sie erkannte einige Gesichter: den Kleinen Eunuchen, den Erzgehilfen Paul-le-Barbon mit dem abstehenden Bart, schließlich Jean-Pourri. Er hielt seine weißen Hände ans Feuer und plauderte mit dem Erzgehilfen.

»Das nenn’ ich eine gelungene Unternehmung, mein lieber Magister. Nicht nur, daß die Polizei uns kein Haar gekrümmt hat, sie hat uns sogar noch geholfen, die Bande dieses unverschämten Calembredaine zu zerschlagen.«

Le Barbon seufzte.

»Eines Tages werden wir uns mit Rodogone schlagen müssen, der seine Nachfolgeschaft angetreten hat. Diese Tour de Nesle, die den Pont-Neuf und den Jahrmarkt von Saint-Germain beherrscht, ist ein gefährlicher strategischer Punkt. Früher, als ich noch im Gymnasium von Navarra ein paar faulen Burschen Geschichte beibrachte .«

Jean-Pourri hörte ihm nicht zu.

»Sei nicht so pessimistisch wegen der Tour de Nesle. Ich für mein Teil wünsche mir nichts Besseres als von Zeit zu Zeit eine solche kleine Revolution. Hab’ ich in der Tour de Nesle nicht prächtig geerntet? Einige zwanzig Knirpse erster Wahl, die mir ein hübsches Sümmchen einbringen werden.«

»Wo sind sie denn, die Engelchen?«

Jean-Pourri deutete zur rissigen Decke hinauf:

»Da droben. In sicherem Gewahrsam.«

In diesem Augenblick begannen zwei Gauner, nach den Klängen einer Schalmei eine Bauernbourrée zu tanzen, und das Gespräch der beiden ging im entstehenden Lärm unter. Immerhin hatte Angélique eine Gewißheit. Die aus der Tour de Nesle entführten Kinder befanden sich im Haus, offenbar in einem Raum, der über dem großen Saal lag.

Vorsichtig schlich sie an der Mauer entlang und entdeckte schließlich eine Pforte, die zu einer Treppe führte. Um kein Geräusch zu verursachen, zog sie ihre Schuhe aus und ging barfüßig.

Die Treppe wand sich steil nach oben und mündete im ersten Stock in einen Gang. Zu ihrer Linken bemerkte sie ein leeres Zimmer, in dem eine Nachtlampe glomm. Ketten waren in der Mauer verankert. Wen kettete man dort an? Wen folterte man dort? Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß Jean-Pourri während der Fronde-Kriege junge Leute und einsam lebende Bauern verschleppt haben sollte, um sie an die Soldatenwerber zu verkaufen ... Die Stille in diesem Teil des Hauses war beängstigend.

Angélique setzte ihren Weg fort. Ein neues Geräusch drang jetzt aus dem Innern des Gebäudes zu ihr: ein Stöhnen, ein Gewimmer, das immer deutlicher wurde. Ihr Herz klopfte bis zum Halse: Es war Kindergewimmer. Im Geiste sah sie Florimonds Gesicht vor sich mit seinen verängstigten schwarzen Augen und seinen bleichen, von Tränen gezeichneten Wangen. Er fürchtete sich in der Dunkelheit. Er rief ... Immer rascher ging sie voran und ließ sich von den Jammerlauten leiten. Sie stieg noch ein Stockwerk höher, durchquerte zwei Räume; Nachtlampen verbreiteten ein schmutzigtrübes Licht. An den Wänden bemerkte sie kupferne Gongs, die zusammen mit auf den blanken Boden geworfenen Strohbündeln und einigen Näpfen die einzige Ausstattung dieser düsteren Wohnstätte ausmachten.

Endlich spürte sie, daß sie ihrem Ziel nahe war, denn deutlich vernahm sie nun das traurige Konzert der kindlichen Jammerlaute, in die sich tröstendes Gemurmel mischte.

In einem kleinen Raum zur Linken des Ganges, durch den sie gekommen war, brannte ein Nachtlicht in einer Nische, aber der Raum war leer. Gleichwohl kamen die Laute von dort. Im Hintergrund entdeckte sie eine dicke, mit Schlössern versperrte Tür. Es war die erste verriegelte Tür, der sie begegnete, denn alle anderen Räume standen jedem Eindringling offen.

In der Türfüllung war ein kleines, vergittertes Fenster angebracht. Sie spähte hindurch und konnte im Innern nichts erkennen, aber es war kein Zweifel, daß die Kinder in dieser luft- und lichtlosen Gruft eingeschlossen waren. Wie konnte sie die Aufmerksamkeit eines verängstigten zweijährigen Jungen wecken?

Die junge Frau preßte die Lippen an die Öffnung und rief leise:

»Florimond! Florimond!«

Das Gewimmer ließ ein wenig nach, dann flüsterte eine Stimme von drinnen: »Bist du’s, Marquise der Engel?«

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Linot. Jean-Pourri hat uns mit Flipot und den andern eingesperrt.«

»Ist Florimond bei euch?«

»Ja.«

»Weint er?«

»Er hat geweint, aber ich hab’ ihm gesagt, du würdest kommen und ihn holen.«

Sie hörte, wie der Junge sich umwandte und begütigend flüsterte: »Siehst du, Flo, deine Mama ist da.«

»Geduldet euch noch, ich werde euch herausholen«, versprach sie.

Sie trat zurück und untersuchte die Tür. Die Schlösser schienen widerstandsfähig zu sein, aber vielleicht ließen sich die Angeln aus der brüchigen Mauer lösen. Verzweifelt grub sie ihre Nägel in den Mörtel, als sie hinter sich ein seltsames Geräusch vernahm, etwas wie ein unterdrücktes Kichern, das rasch zum Gelächter wurde.

Angélique fuhr herum und erblickte den Großen Coesre. Das Ungeheuer lag auf einem niedrigen, vierrädrigen Wagen, den er offenbar durch die Gänge seines unheimlichen Labyrinths bewegte, indem er sich mit seinen Armen vorwärtsschob.

Von der Türschwelle aus fixierte er die junge Frau mit seinen grausam glitzernden Augen. Und sie erkannte, von Entsetzen gelähmt, die phantastische Erscheinung vom Friedhof der Unschuldigen Kindlein wieder.

Er hörte nicht auf zu lachen; das wüste Gewieher schüttelte seinen verkrüppelten Oberkörper, an dem die dünnen, schlaffen Beinchen hingen.

Dann setzte er sich, noch immer lachend, schwerfällig mit seinem Gefährt in Bewegung. Wie gebannt folgte ihm Angélique mit dem Blick. Er kam nicht auf sie zu, sondern durchquerte den Raum in der Diagonalen, und plötzlich bemerkte sie an der Wand einen der kupfernen Gongs, wie sie sie schon in anderen Räumen gesehen hatte. Auf dem Boden unter ihm lag ein Eisenstab.

Der Große Coesre war im Begriff, den Gong zu schlagen. Und auf dessen hallenden Ruf hin würden sich aus den Tiefen des Hauses alle Bettler, alle Banditen, alle Dämonen dieser Hölle auf Angélique, auf Florimond stürzen .