Выбрать главу

Die Augen des erstochenen Tiers wurden glasig.

»Oh, du hast ihn getötet!« sagte eine Stimme.

Auf derselben Schwelle, auf der vor kurzem der Große Coesre erschienen war, stand jetzt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit einem Madonnengesicht.

Angéliques Blick glitt über die blutgerötete Klinge ihres Dolchs. Dann sagte sie mit leiser Stimme:

»Keinen Laut! Sonst muß ich auch dich töten.«

»O nein, sei unbesorgt. Ich bin ja froh, daß du ihn getötet hast!«

Sie näherte sich. »Niemand hatte den Mut, ihn zu töten«, murmelte sie. »Alle hatten sie Angst. Dabei war er nichts als ein widerliches kleines Männchen.«

Sie hob ihre schwarzen Augen zu Angélique auf. »Aber jetzt mußt du dich schleunigst davonmachen.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Rosine . Die letzte Frau des Großen Coesre.«

Angélique barg den Dolch wieder in ihrem Gürtel.

»Du mußt mir helfen, Rosine. Mein Kind ist hinter jener Tür. Jean-Pourri hat es dort eingeschlossen. Ich muß es wiederhaben.«

»Der Doppelschlüssel ist dort«, sagte das Mädchen. »Jean-Pourri hat ihn dem Großen Coesre anvertraut. In seinem Wagen.«

Sie bückte sich zu dem reglosen, abstoßenden Körper. »Da ist er.«

Sie selbst schob den Schlüssel in die knirschenden Schlösser. Die Tür ging auf. Angélique tastete sich ins Innere des Verlieses und ergriff Florimond, den Linot auf dem Arm hielt. Das Kind weinte nicht, noch schrie es, aber es war vor Kälte erstarrt und umfing mit seinen beiden mageren Ärmchen so fest ihren Hals, daß ihr fast der Atem verging.

»Jetzt hilf mir, aus dieser Höhle herauszukommen«, bat sie Rosine.

Linot und Flipot klammerten sich an ihre Röcke. Sie befreite sich von den kleinen, schmierigen Händen, aber die Jungen liefen hinter ihr drein.

»Laß uns nicht im Stich, Marquise der Engel!«

Plötzlich legte Rosine, die sie zu einer Treppe gedrängt hatte, den Finger an die Lippen.

»Pst! Es kommt jemand herauf.«

Schwere Schritte hallten im unteren Stockwerk wider.

»Es ist Bavottant, der Schwachsinnige. Kommt schnell!«

Und sie zog Angélique und die Kinder mit sich. Als sie eben atemlos die Straße erreichten, stieg ein unmenschliches Jammergeschrei aus den Gründen des Palasts des Großen Coesre auf. Es war Bavottant, der Schwachsinnige, der vor dem Leichnam des königlichen Zwergs, den er so lange umsorgt hatte, seinem Schmerz freien Lauf ließ.

»Rasch, rasch!« drängte Rosine.

Keuchend rannten sie durch das Gewirr der dunklen Gassen, das kein Ende zu nehmen schien. Immer wieder glitten ihre bloßen Füße auf dem schlüpfrigen Pflaster aus. Endlich verlangsamte das junge Mädchen den Schritt.

»Da sind die Laternen«, sagte es. »Das ist die Rue Saint-Martin.«

»Wir müssen noch weiter. Sie könnten uns verfolgen.«

»Bavottant kann nicht sprechen. Niemand wird begreifen, was geschehen ist. Vielleicht glaubt man sogar, daß er ihn umgebracht hat. Später wird man einen neuen Großen Coesre einsetzen. Und ich werde niemals dorthin zurückkehren. Ich bleibe bei dir, weil du ihn getötet hast.«

»Und wenn Jean-Pourri uns findet?« fragte Linot.

»Er wird euch nicht finden. Ich beschütze euch alle.«

Rosine deutete auf einen blassen Schimmer am Firmament, der die Laternen verbleichen ließ.

»Schau, die Nacht ist vorbei.«

»Ja, die Nacht ist vorbei«, wiederholte Angélique nachdrücklich.

Im Kloster Saint-Martin-des-Champs verteilte man des Morgens eine Suppe an die Armen. Die vornehmen Damen, die der Frühmesse beigewohnt hatten, halfen den Nonnen bei diesem Liebeswerk. Ihre Gäste, die sich oft genug mit dem Straßengraben als Nachtquartier hatten begnügen müssen, genossen im großen Refektorium ein paar flüchtige Augenblicke des Wohlbehagens. Jeder von ihnen bekam einen Napf mit heißer Fleischbrühe und ein rundes Brot.

Hier war es, wo Angélique mit Florimond auf dem Arm landete, gefolgt von Rosine, Linot und Flipot. Alle fünf waren sie erschöpft und schmutzbedeckt.

Der Duft der Suppe war recht einladend, aber Angélique wollte erst Florimond trinken lassen, bevor sie sich selbst sättigte. Behutsam führte sie die Schale an die Lippen des Kleinen, der mit halbgeschlossenen Augen hastig atmete, als könne sein durch die Angst überanstrengtes Herz nicht zum normalen Rhythmus zurückfinden. Apathisch ließ er die Fleischbrühe von seinen Lippen herabrinnen. Indessen belebte ihn die Wärme der Flüssigkeit, er stieß auf, und es gelang ihm, einen Mundvoll zu schlucken. Dann streckte er selbst die Hände nach der Schale aus, um gierig zu trinken.

Angélique betrachtete das kleine, unter dem dunklen, wirren Haarschopf fast verschwindende Gesicht-chen.

»Das also«, sagte sie bei sich, »hast du aus dem Sohn Joffreys de Peyrac gemacht, aus dem Nachkommen der Grafen von Toulouse, dem Kind der Blumenspiele, zum Licht und zur Freude geboren .«

Es war, als erwache sie endlich aus langer Stumpfheit und als gebe ihr erst dieses Erwachen den Blick frei auf ihr grausiges, ruiniertes Leben. Was hatte sie mit ihrem Kind geschehen lassen! Ein wilder Zorn auf sich selbst und die Welt überkam sie, und obgleich sie nach dieser fürchterlichen Nacht hätte erschöpft und leer sein müssen, fühlte sie sich jäh von einer wunderbaren Kraft überflutet.

»Nie mehr ...«, sagte sie sich, »nie mehr wird er hungern ... wird er frieren ... Nie mehr wird er sich ängstigen. Ich schwöre es.«

Aber warteten draußen vor der Klostertür nicht der Hunger, die Kälte und die Angst auf sie? Es mußte etwas geschehen. Sofort.

Angélique sah sich um. Sie war nur eine jener bejammernswürdigen Mütter, eine jener »Armen«, die nichts zu fordern haben und über die sich die eleganten Damen aus Barmherzigkeit neigten, bevor sie wieder zu ihren literarischen Zirkeln und Hofintrigen zurückkehrten.

Mit einem Schleiertuch über dem Haar, das die gleißenden Perlen verbarg, und einer an Samt und Seide gehefteten Schürze gingen die hochwohlgeborenen Wohltäterinnen vom einen zum andern. Eine Magd folgte ihnen mit einem Korb, dem die Damen Kuchen, Obst, zuweilen Pasteten oder halbe Hühner entnahmen, die Reste der fürstlichen Tafeln.

»O meine Liebe«, sagte eine von ihnen, »Ihr seid recht mutig, Euch in Eurem Zustand zu so früher Stunde zum Almosenausteilen zu begeben. Gott wird es Euch lohnen.«

»Ich will es hoffen, Teuerste.«

Das Auflachen, das diesen Worten folgte, kam Angélique vertraut vor. Sie blickte auf und erkannte die Herzogin von Soissons, der die rothaarige Bertille einen Umhang aus blauer Seide reichte. Die Herzogin hüllte sich fröstelnd in ihn ein.

»Es ist nicht recht vom lieben Gott, daß er die Frauen zwingt, neun Monate lang die Frucht eines kurzen Vergnügens in ihrem Schoß zu tragen«, sagte sie zu der Äbtissin, die sie zur Tür begleitete.

»Was bliebe den Menschen, wenn in den irdischen Dingen alles nur Vergnügen wäre«, erwiderte die Nonne lächelnd.

Angélique erhob sich und reichte Linot ihren Sohn.

»Hüte Florimond.«

Aber der Kleine klammerte sich an sie und schrie. So entschloß sie sich, ihn bei sich zu behalten, und gebot den andern:

»Bleibt da und rührt Euch nicht von der Stelle.«

Eine Kutsche wartete in der Rue Saint-Martin. Als die Herzogin von Soissons sich anschickte einzusteigen, trat eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Kind im Arm zu ihr und sagte: »Madame, mein Kind stirbt vor Hunger und Kälte. Gebt einem Eurer Lakaien Anweisung, an einen von mir bezeichneten Ort einen Karren mit Brennholz, einen Topf Suppe, Brot, Decken und Kleidung zu bringen.«

Die vornehme Dame musterte die Bettlerin verwundert.

»Ihr seid ja reichlich keck, Mädchen. Habt Ihr heute früh nicht Euren Teller Suppe bekommen?«

»Von einem Teller Suppe kann ich nicht leben, Madame. Was ich von Euch erbitte, ist wenig im Vergleich zu Eurem Reichtum. Ihr werdet mir einen Karren voll Holz und Nahrung zukommen lassen, bis ich mich auf andere Weise behelfen kann.«