Angélique rieb sich energisch den Kopf und stellte fest, daß es wirklich sehr einfach war, sich die Haare zu waschen, wenn man keine mehr hatte.
»Nein, ich bin die Marquise der Engel.«
»Oh, du bist das!« rief das Mädchen verblüfft aus.
»Ich hab’ so viel von dir reden hören. Stimmt es, daß Calembredaine gehenkt worden ist?«
»Ich weiß es nicht, Rosine. Schau, wir sind in einer sehr schlichten und sehr ehrbaren kleinen Stube. Dort an der Wand hängen ein Kruzifix und ein Weihwassergefäß. Wir dürfen von alldem nicht mehr reden.«
Sie streifte ein grobes Leinenhemd über, einen Rock und ein Mieder aus dunkelblauem Wollstoff, die zu der Fracht des Karrens gehört hatten. Die unförmigen, derben Kleidungsstücke waren viel zu weit für Angéliques schmale Taille, aber sie waren sauber, und sie empfand es als große Erleichterung, ihre Lumpen von sich werfen zu können.
Dem Köfferchen, das sie samt dem Affen Piccolo in der Rue du Val d’Amor abgeholt hatte, entnahm sie einen kleinen Spiegel. In diesem Köfferchen befanden sich alle möglichen interessanten Dinge, auf die sie Wert legte, unter anderem ein Schildpattkamm, mit dem sie sich kämmte. Ihr Gesicht mit den abgeschnittenen Haaren kam ihr fremd vor.
»Haben dir die Büttel die Perücke gestutzt?« fragte Rosine.
»Ja ... Pah, das wächst nach. O Rosine, was hab’ ich denn da?«
»Wo?«
»In meinen Haaren. Schau.«
Rosine beugte sich über sie.
»Es ist eine weiße Strähne«, sagte sie.
»Eine weiße Strähne!« wiederholte Angélique entsetzt. »Aber das ist doch nicht möglich. Gestern hab’ ich noch keine gehabt. Ich weiß es ganz sicher.«
»Das passiert eben so. Vielleicht heut nacht?«
»Ja, heute nacht.«
Angéliques Beine versagten den Dienst, und sie mußte sich auf Barbes Bett setzen.
»Rosine . Bin ich alt geworden?«
Das Mädchen kniete vor ihr nieder und sah sie ernst an, dann streichelte sie ihre Wange.
»Ich glaube, nicht. Du hast keine Runzeln, deine Haut ist glatt.«
Angélique ordnete ihr Haar, so gut es gehen wollte, und versuchte, die unglückselige Locke unter den andern zu verbergen. Dann band sie ein schwarzseidenes Tuch um den Kopf.
»Wie alt bist du, Rosine?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht vierzehn, vielleicht auch fünfzehn.«
»Jetzt erinnere ich mich an dich. Ich habe dich eines Nachts auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein gesehen. Du gingst im Zug des Großen Coesre, und deine Brüste waren bloß. Es war im Winter. Hast du nicht gefroren?«
Rosine richtete ihre großen, dunklen Augen auf Angélique, ein stiller Vorwurf lag in ihnen. »Du hast es selbst gesagt. Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick trommelten Flipot und Linot an die Tür. Vergnügt kamen sie herein. Barbe hatte ihnen heimlich eine Pfanne, ein Stück Speck und eine Schüssel mit Teig zugesteckt. Es würde Speckpfannkuchen geben.
An diesem Abend gab es in Paris kaum einen Ort, an dem es fröhlicher herging als in der kleinen Stube hoch über der Rue de la Vallée-de-Misère. Angélique buk die Pfannkuchen, und Linot zupfte auf der Bettlerleier Thibault-le-Veilleurs. Die Polackin war es gewesen, die das Instrument in einem Straßenwinkel gefunden und dem Enkel des alten Musikanten übergeben hatte. Niemand wußte, was aus diesem bei der großen Schlägerei geworden war.
Ein wenig später kam Barbe mit ihrem Leuchter herauf. Sie erzählte, daß kein Gast mehr in der Bratstube gewesen sei und Meister Bourgeaud verärgert seine Tür abgeschlossen habe. Um das Unglück des Gastwirts vollzumachen, habe man ihm auch noch die Uhr gestohlen. Kurz, sie sei viel früher frei als gewöhnlich. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende war, fiel ihr Blick auf eine wunderliche Sammlung von Gegenständen, die auf dem Kasten ausgebreitet war, in dem sie ihre Habseligkeiten verstaute. Da waren zwei Tabakreiben, eine gestickte Börse mit einigen Geldstücken, Knöpfe, ein Haken, und mitten drin.
»Aber ... das ist ja die Uhr Meister Bourgeauds!« sagte sie verdutzt.
»Flipot!« rief Angélique.
Flipot wich ihrem Blick aus.
»Ja, ich war’s«, gab er zu. »Als ich wegen des Teigs in die Küche ging.« Angélique packte ihn beim Ohr und schüttelte ihn gehörig.
»Wenn du wieder zu mausen anfängst, verflixter kleiner Taschendieb, dann setz’ ich dich vor die Tür, und zu kehrst zu Jean-Pourri zurück.«
Zerknirscht schlich sich der Junge in eine Ecke des Raums, legte sich nieder und schlief bald darauf ein. Linot folgte seinem Beispiel und nach ihm Rosine, die sich auf dem Strohsack zusammenkauerte. Auch die Kleinen waren längst wieder eingeschlummert.
Vor dem Feuer blieben nur Barbe und Angélique wach. Man hörte kaum ein Geräusch, denn das Zimmer ging nach einem Hof und nicht nach der Straße, die sich zu dieser Stunde mit Zechern und Spielern zu bevölkern begann.
»Es ist noch nicht spät. Eben schlägt es neun Uhr vom Châtelet«, sagte Barbe.
Sie wunderte sich, als Angélique mit einem wie erstarrten Gesichtsausdruck den Kopf hob und sich gleich darauf entschlossen aufrichtete. Einen Augenblick lang betrachtete sie ihre schlafenden Kinder. Dann ging sie zur Tür.
»Bis morgen, Barbe«, flüsterte sie.
»Wohin geht Madame?«
»Es bleibt mir noch ein Letztes zu tun«, sagte Angélique. »Dann bin ich endlich fertig damit. Das Leben kann neu beginnen.«
Von der Rue de la Vallée-de-Misère waren es nur ein paar Schritte bis zum Châtelet. Angélique mochte ihren Schritt noch so sehr verlangsamen, sie befand sich bald vor dem von zwei Türmchen eingerahmten und von einem Uhrturm überragten Hauptportal. Wie am Tage zuvor war das Gewölbe von Fackeln erleuchtet.
Angélique näherte sich dem Eingang, dann zögerte sie, schlug eine andere Richtung ein und begann durch die benachbarten Straßen zu wandern, in der Hoffnung, ein plötzliches Wunder werde das düstere Schloß vom Erdboden verschwinden lassen, dessen dicke Mauern schon sechs Jahrhunderten getrotzt hatten. Die Geschehnisse dieses letzten Tages hatten das dem Hauptmann der Wache gegebene Versprechen aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Erst Barbes Worte hatten es ihr wieder in Erinnerung gerufen. Nun war die Stunde gekommen, es einzulösen.
»Komm«, sagte sie sich, »du gewinnst nichts, wenn du draußen bleibst. Es muß nun mal sein.«
Also kehrte sie zum Gefängnis zurück und trat beherzt in die Wachstube.
»Ah, da bist du ja!« sagte der Hauptmann.
Er saß rauchend am Kamin und hatte beide Füße auf den Tisch gelegt.
»Ich hätte nicht gedacht, daß sie wiederkommen würde«, sagte einer der Männer.
»Ich schon«, versicherte der Hauptmann. »Weil ich zwar Kerls gesehen habe, die wortbrüchig geworden sind, aber nie eine Dirne. Nun, mein Schätzchen .?«
Ein eiskalter Blick traf sein hochgerötetes Gesicht. Ungerührt streckte der Hauptmann die Hand aus und zwickte sie freundschaftlich ins Hinterteil.
»Man wird dich jetzt zum Wundarzt bringen, damit er nachsehen kann, ob du nicht etwa krank bist. Wenn du es bist, wird er dir Salbe auflegen. Ich bin nämlich sehr heikel, mußt du wissen. Also, vorwärts!«
Ein Polizist führte Angélique zum Amtsraum des Wundarztes und von dort nach erfolgter Untersuchung über düstere Treppen und Flure ins Zimmer des Hauptmanns. Eine Weile blieb sie allein in dem Raum, dessen Fenster wie die einer Zelle vergittert und dessen dicke Wände nur mangelhaft mit schäbigen, ausgefransten Bergamo-Teppichen verkleidet waren. Die Luft roch nach altem Leder, nach Tabak und Wein. Angélique blieb stehen, wo der Polizist sie verlassen hatte, unfähig, sich zu setzen oder überhaupt etwas zu tun, krank vor Beklemmung und immer mehr erstarrend, denn die kühle Feuchtigkeit des Orts war durchdringend.