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»Nun schlaf ein bißchen, mein hübsches Kind«, brummte er schläfrig. »Das Weitere morgen früh, und dann sind wir quitt.«

Zwei Sekunden darauf schnarchte er dröhnend.

Angélique glaubte, lange nicht einschlafen zu können, aber diese letzte Prüfung im Verein mit den Anstrengungen dieses Tags und dem Wohlbehagen, das ihr das weiche und warme Bett verschaffte, ließ auch sie alsbald in tiefen Schlaf versinken.

Als sie in der Dunkelheit erwachte, brauchte sie eine ganze Weile, um sich klarzuwerden, wo sie sich befand. Das Schnarchen des Hauptmanns hatte nachgelassen. Sie empfand keine Angst mehr, aber eine Unruhe quälte sie noch. Sie fühlte sich bedrückt, nicht etwa der unförmigen Gestalt wegen, die da massig und regungslos neben ihr lag, sondern aus anderen, noch undefinierbaren Gründen.

Sie versuchte, wieder einzuschlafen, wälzte sich mehrmals von einer Seite auf die andere. Schließlich horchte sie auf und vernahm jene undeutlichen Geräusche, die sie aus ihrem Schlaf gerissen hatten. Wie Stimmen klang es, sehr ferne Stimmen, Stimmen, die Klagen von sich gaben. Es wollte nicht aufhören. Und plötzlich begriff sie: Das waren die Gefangenen.

Durch den Fußboden und die massiven Mauern drangen die unterdrückten Klagelaute zu ihr, die Verzweiflungsschreie der gefesselten, frierenden Unglücklichen, die sich mit Fußtritten gegen die Ratten wehrten, die gegen das Wasser, gegen den Tod ankämpften. Verbrecher verfluchten Gott, und Unschuldige beteten zu ihm. Andere röchelten, halb erstickt in der dumpfen Luft, erschöpft von den Folterungen, von Hunger und Kälte.

Angélique zitterte. Das Châtelet lastete auf ihr mit all seinen Jahrhunderten und all seinen Schrecken. Würde sie jemals wieder ins Freie gelangen? Würde der Menschenfresser sie gehen lassen? Er schlief. Er war stark und mächtig. Er war der Herr dieser Hölle.

Doch jetzt bewegte er sich und hätte sie beinahe erdrückt, als er sich umdrehte.

»Hoho! Das Täubchen ist wach«, sagte er mit schlaftrunkener Stimme. Er zog sie an sich, und sie fühlte sich überschwemmt von diesem von Muskeln durchzogenen prallen Fleisch.

Der Mann gähnte geräuschvoll. Dann schob er die Vorhänge auseinander und sah, daß hinter den Fenstergittern eben der Morgen zu grauen begann. »Du bist früh munter, mein Kätzchen.«

»Was sind das für Geräusche, die man da hört?«

»Das sind die Gefangenen. Meiner Treu, sie haben nicht so viel Spaß wie wir.«

»Sie leiden ...«

»Man steckt sie dort nicht rein, damit sie sich amüsieren. Du kannst von Glück sagen, daß du so davongekommen bist. Hast es besser in meinem Bett als auf der anderen Seite der Mauer, auf dem Stroh. Hab’ ich nicht recht?«

Angélique nickte so überzeugt, daß der Hauptmann entzückt war. Er ergriff einen Humpen mit Rotwein, der auf dem Tisch neben seinem Bett stand, und tat einen langen Zug. Dann reichte er ihn Angélique.

»Jetzt bist du an der Reihe.«

Sie nahm den Krug, denn sie spürte, daß nur dies eine sie zwischen den düsteren Mauern des Châtelet vor der Verzweiflung bewahren konnte: das durch das Trinken und die Freuden des Fleisches hervorgerufene brutale Wohlgefühl, das vergessen macht.

Er ermunterte sie:

»Trink, mein Täubchen, trink! Es ist ein guter Wein, er wird dir wohltun.«

Als sie sich schließlich wieder zurückfallen ließ, drehte sich ihr der Kopf; das scharfe, schwere Getränk umnebelte ihr Denken. Nichts war mehr wichtig, nur leben wollte sie.

Schwerfällig rückte er ihr wieder näher, doch sie fürchtete ihn nicht mehr. Ohne sonderliche Zärtlichkeit, aber auf energische und erfahrene Weise streichelte er sie mit seinen derbe Händen. Seine Liebkosungen, die eher einer ein wenig rauhen Massage als einem Zephirhauch glichen, stießen sie nicht ab. Er küßte sie auf bäuerlich-derbe, genießerische und geräuschvolle Art, die Angélique zum Lachen reizte.

Dann nahm er sie von neuem in seine behaarten Arme, und sie schloß die Augen ...

Nachdem sie das Châtelet verlassen hatte, stieg sie zur Seine hinunter. Am Quai des Morfondus unterhielten Frauen von Flußschiffern den Sommer über »Bäder« für ihre Geschlechtsgenossinnen. Von jeher verbrachten Pariser und Pariserinnen die drei heißen Monate des Jahres damit, in der Seine zu planschen. Die »Bäder« bestanden aus ein paar eingerammten Pfählen, über die eine Zeltleinwand gespannt war.

Die Frauen betraten sie in Hemd und Haube.

Die Schiffersfrau, der Angélique das Eintrittsgeld bezahlen wollte, rief erstaunt aus:

»Bist du denn verrückt, daß du zu dieser Stunde ins Wasser steigen willst? Es ist ganz hübsch frisch.«

»Das macht nichts.«

Tatsächlich, das Wasser war kalt, aber nachdem sie eine Weile mit den Zähnen geklappert hatte, fühlte sich Angélique ungemein wohl. Da sie der einzige Gast war, machte sie ein paar Schwimmstöße zwischen den Pfosten. Nachdem sie sich abgetrocknet und wieder angekleidet hatte, spazierte sie noch eine gute Weile am Ufer entlang und genoß die warme Herbstssonne. »Es ist vorbei«, sagte sie sich. »Ich will kein Elend mehr, und ich will auch nicht mehr gezwungen sein, so schreckliche Dinge zu tun wie in den letzten Tagen, wie in der vergangenen Nacht. Ich hatte mich verloren, nun muß ich mich wiederfinden. Und ich will, daß meine Kinder nie mehr hungern und frieren. Daß sie gut angezogen sind und geachtet werden. Ich will, daß sie wieder einen Namen bekommen. Ich will einen Namen für mich selbst . Ich will den Platz zurückerobern, den ich verloren habe .«

Als Angélique so vorsichtig wie möglich in den Hof der Bratküche zum »Kecken Hahn« schlich, tauchte der mit einer Suppenkelle bewaffnete Meister Bourgeaud auf und stürzte sich auf sie. Sie war ein wenig darauf gefaßt gewesen und hatte eben noch Zeit, hinter den kleinen Brunnen auszuweichen. Erfolglos jagte er sie um das steinerne Geländer herum.

»Hinaus, Landstreicherin, Dirne!« brüllte der Bratkoch. »Was habe ich dem Himmel angetan, daß ich von Entsprungenen des Arbeits- oder des Irrenhauses oder von noch Schlimmerem überfallen werde? Ich weiß genau, was so ein geschorener Kopf wie der deinige zu bedeuten hat . Geh ins Châtelet zurück, wo du herkommst, oder ich werde selber dafür sorgen, daß du dorthin zurückgebracht wirst ... Ich weiß nicht, was mich gestern davon abhielt, dir die Wache auf die Spur zu setzen ... Ich bin zu gutmütig. Ach, was würde meine tugendsame Frau sagen, wenn sie sähe, wie ihre Wirtschaft entehrt wird!«

Während Angélique den Angriffen der Suppenkelle auswich, schrie sie noch lauter als er:

»Und was würde Eure tugendsame Frau zu einem so entehrenden Manne sagen . der schon in aller Herrgottsfrühe zu trinken anfängt .?«

Der Bratkoch blieb verdutzt stehen. Angélique nützte ihren Vorteil aus.

»Und was würde sie über ihre von einer dicken Staubschicht bedeckte Wirtschaft sagen, über das Schaufenster mit seinen sechs Tage alten, zäh wie Pergament gewordenen Hühnern, über ihren leeren Keller, ihre ungewachsten Tische und Bänke .?«

»Zum Teufel .!« stammelte er.

»Was würde sie zu einem Manne sagen, der flucht? Arme Meisterin Bourgeaud, die aus Himmelshöhen diese Unordnung betrachtet! Ich kann Euch versichern, und ich irre mich bestimmt nicht, sie weiß nicht, wie sie ihr Schamgefühl vor den Engeln und allen Heiligen des Paradieses verbergen soll!«