»Ihr seid zu gütig. Ich bin gerührt. Und seid Ihr wohl hinreichend gut erzogen, eine Dame von Stand nicht so vertraulich zu duzen?«
Der arme Gehilfe, in dessen langem, blassem Jungengesicht recht schöne, dunkle Augen saßen, schien plötzlich Seelenqualen zu leiden. Seine Sicherheit hatte ihn im Stich gelassen.
Angélique schickte sich schon an, ihren Weg die Treppe hinauf fortzusetzen, als sie plötzlich noch einmal innehielt.
»Hör mal, dein Dialekt klingt ja, als seist du aus dem Süden?«
»Ja ... Madame. Ich bin aus Toulouse.«
»Toulouse!« schrie Angélique auf. »O Bruder meines Landes!«
Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
»Toulouse!« wiederholte sie.
Der Junge wurde rot wie eine Tomate. Angélique sprach mit ihm einige Worte in der langue d’oc, und Davids Bewegung wuchs immer mehr.
»Ihr seid auch dorther?«
»Beinahe.«
Sie war lächerlich glücklich über diese Begegnung. Welch ein Kontrast! Eine der vornehmsten Damen von Toulouse gewesen zu sein, und nun einen Bengel abzuküssen, nur weil seine Sprache die Erinnerung an Sonnenglanz weckte, an den würzig-süßen Duft von Knoblauch und Blumen! Das Haus kam ihr unversehens düster und scheußlich vor.
»Eine so schöne Stadt!« murmelte sie. »Weshalb bist du nicht in Toulouse geblieben?«
»Erstens ist mein Vater gestorben«, erklärte David. »Und dann wollte er immer, daß ich nach Paris ginge, um den Beruf des Schankwirts zu erlernen. Da bin ich eben nach Paris gegangen und just an dem Tage angekommen, als meine Tante, die Meisterin Bourgeaud, an den Pocken starb. Ich hab’ nie Glück gehabt. Bei mir geht immer alles schief.«
»Das Glück wird bestimmt noch kommen«, sagte Angélique tröstend und setzten ihren Weg fort.
In der Mansarde fand sie Rosine vor, die die beiden herumtollenden Kleinen bewachte. Barbe war bei ihrer Küchenarbeit. Die größeren Jungen waren »schlendern« gegangen, was in der Gaunersprache bedeutete, daß sie Almosen erbitten wollten.
»Ich will nicht, daß sie betteln gehen«, sagte Angélique streng.
»Du willst nicht, daß sie stehlen, du willst nicht, daß sie betteln. Was willst du denn, daß sie tun?«
»Daß sie arbeiten.«
»Aber das ist doch Arbeit«, wandte das Mädchen ein.
»Nein. Komm und hilf mir, Florimond und Cantor in die Küche zu bringen. Du wirst auf sie achten und Barbe helfen.«
Sie war froh, die beiden Kleinen in diesem von Wärme und nahrhaften Küchendüften erfüllten weiträumigen Bezirk lassen zu können. Florimond steckte in einem kleinen Rock aus braungrauem Tamin, einem Leibchen aus gelber und einer Schürze aus grüner Serge. Dazu trug er ein Häubchen aus dem gleichen grünen Stoff. Diese Farben bewirkten, daß sein zartes Gesichtchen noch kränklicher aussah. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, um festzustellen, ob er etwa fieberte. Er wirkte munter, wenn auch zuweilen ein wenig launisch und mäkelig. Was Cantor betraf, so vergnügte der sich seit dem Morgen damit, unermüdlich das Leinenzeug abzustreifen, in das ihn Rosine mit nicht eben geschickten Händen zu wickeln versucht hatte. In dem Korb, in dem man ihn unterbrachte, richtete er sich, nackt wie ein Engelchen, sofort wieder auf und gab zu verstehen, daß er herauswolle, um die Flammen zu fangen.
»Dieses Kind ist nicht richtig aufgezogen worden«, stellte Barbe sorgenvoll fest. »Hat man ihm jemals Arme und Beine gewickelt, wie es sich gehört? Es wird sich nicht gerade halten können und womöglich bucklig werden.«
»So wie’s da liegt, wirkt es für ein Kind von neun Monaten ganz hübsch kräftig«, bemerkte Angélique, die die wohlgerundeten Hinterbäckchen ihres Jüngsten bewunderte.
Doch Barbe gab sich nicht zufrieden. Das Cantor sich so frei bewegte, ließ ihr keine Ruhe.
»Sobald ich einen Augenblick Zeit habe, werde ich Mullbinden zuschneiden, um ihn zu wickeln. Heute morgen ist allerdings nicht dran zu denken. Meister Bourgeaud ist ganz aus dem Häuschen. Stellt Euch vor, Madame, er hat mich angewiesen, die Fliesen aufzuwaschen, die Tische zu wachsen, und außerdem soll ich auch noch zum Temple laufen und weiche Kreide kaufen, um das Zinn zu putzen. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht .«
»Sag Rosine, sie soll dir helfen.«
Nachdem sie ihre kleine Welt versorgt hatte, machte sich Angélique guten Muts auf den Weg zum Pont-Neuf. Die Blumenverkäuferin erkannte sie nicht. Angélique mußte ihr Einzelheiten jenes Tags in Erinnerung rufen, an dem sie ihr beim Blumenbinden geholfen und ihre Komplimente eingeheimst hatte.
»Ja, wie kann ich dich denn auch wiedererkennen?« rief die gute Frau aus. »Damals hattest du Haare und keine Schuhe. Heute hast du Schuhe und keine Haare. Nun, deine Finger haben sich hoffentlich nicht verändert ... Setz dich ruhig zu uns. An Arbeit fehlt’s nicht in dieser Allerheiligenzeit. Bald werden sich die Friedhöfe und die Kirchen mit Blumen schmücken, von den Bildern der Verstorbenen ganz zu schweigen.«
Angélique setzte sich unter den roten Schirm und machte sich gewissenhaft und geschickt ans Werk. Sie atmete die Luft des Pont-Neuf mit einem aus Zufriedenheit und Entsetzen gemischten Gefühl. Der von der Seine kommende Wind streifte feucht liebkosend ihre Lippen. Dicke Wolken zogen vorüber, doch die Sonne zerteilte sie, und am zartfarbigen Horizont des Flusses zeichnete sich die bezaubernde Silhouette von Paris ab. Angéliques Blick blieb am Justizpalast haften, der den Schatten seiner Türme auf den Pont-Neuf warf und gewisse Erinnerungen in ihr weckte. Doch was kümmerte sie das? Sie fühlte sich hier wohl und geborgen, und sie war froh, keinen der armen Schlucker zu kennen, die sich da herumtrieben. Sollte die Herrschaft Calembredaines, des berüchtigten Strolches vom Pont-Neuf, wirklich für immer zu Ende gegangen sein? Die Polizei und seine Genossen von der Gaunerzunft schienen sich förmlich in ihren Bemühungen vereinigt zu haben, ihn zu vernichten. Wo war er? Gehenkt? Ertrunken? Sie starrte in die trägen, blaugrauen Fluten der Seine. Sie empfand keinerlei Regung. Sie gestand sich sogar eine tiefe Erleichterung darüber ein, dieser eisernen Faust entronnen zu sein, die sie zwar beschützt, zugleich aber auch noch tiefer in die Abgründe des Verbrechens hineingezerrt hatte.
Wie berauscht war sie von ihrer zurückgewonnenen Freiheit. Ihre Kraft schien ihr grenzenlos. Schritt für Schritt würde sie den Abhang wieder erklimmen, ihren beiden Söhnen einen Namen geben. Nie mehr sollten sie hungern, nie mehr frieren ...
Die Händlerinnen redeten über die Schlacht auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain. Man zählte noch, wie es schien, die Toten jener besonders blutigen Schlägerei. Aber diesmal, das mußte man zugestehen, war die Polizei ihrer Aufgabe völlig gewachsen gewesen. Seit dem berühmten Abend begegnete man auf den Straßen Rudeln von Gaunern, die von den Bütteln ins Arbeitshaus geführt wurden, oder Ketten von Sträflingen, die man auf die Galeeren brachte. Und an jedem Morgen fanden auf der Place de Grève zwei oder drei Hinrichtungen statt.
»Ihr werdet sehen«, versicherte die dicke Händlerin, die in der Innung der Blumenbinderinnen eine gewichtige Stellung einzunehmen schien, »unser junger König wird uns von diesem Ungeziefer befreien. Es heißt, er sei entschlossen, große Reformen durchzuführen. In Kürze soll jeder Bettler und Eckensteher, der keine Wohnung nachweisen kann, festgenommen und zwangsweise in ein Asyl eingewiesen werden.«
»Das ist ein König nach unserm Geschmack!« rief ein hübsches Mädchen, das einen Korb mit Nelken trug. »Er ist schön! Ich sah ihn eines Tages, als er in seiner Kutsche durch die Rue de la Vannerie fuhr. >Es lebe der König!< hab’ ich gerufen und ihm ein Sträußchen zugeworfen. Es ist in den Rinnstein gefallen, aber er hat es gesehen und freundlich gelächelt.«
»Er scheint in eine Hofdame der Königin verliebt zu sein und sie zu seiner Favoritin gemacht zu haben. Er soll sie mit Juwelen überschütten.«