»Haben wir nicht fein gearbeitet, Meister Jacques?« rief sie ihm zu.
»Gewiß, mein Kind. Meine Bratküche hat lange kein solches Fest erlebt! Und diese Herren haben sich als nicht so schlechte Zahler erwiesen, wie ihre Federbüsche und Rapiere befürchten ließen.«
»Glaubt Ihr nicht, daß sie nächstens ihre Freunde hierher mitbringen werden?«
»Schon möglich.«
»Ich schlage Euch folgendes vor«, erklärte Angé-lique. »Ich helfe Euch weiterhin mit allen meinen Schutzbefohlenen: Rosine, Linot, Flipot, dem Affen. Und Ihr gebt mir ein Viertel Eures Gewinns!«
Der Bratkoch runzelte die Stirn. Diese Art des Geschäftemachens kam ihm immer noch ungewöhnlich vor, zumal er fürchtete, eines Tages Unannehmlichkeiten mit den Innungen zu bekommen. Aber das einträgliche nächtliche Zechgelage vernebelte ihm das Hirn und machte ihn Angéliques Wünschen zugänglich.
»Wir werden vor dem Notar einen Vertrag abschließen«, fuhr diese fort, »der natürlich geheim bleiben wird. Es ist nicht nötig, daß Ihr mit Euren Nachbarn über Eure Angelegenheiten redet. Sagt, ich sei eine junge Verwandte, die Ihr aufgenommen habt, und wir arbeiteten gemeinschaftlich. Ihr werdet sehen, Meister Bourgeaud, wir machen bestimmt glänzende Geschäfte. Mutter Marjolaine hat schon mit mir wegen des Festschmauses der Innung der Apfelsinenverkäuferinnen vom Pont-Neuf gesprochen, der am Tag des heiligen Fiacre fällig ist. Glaubt mir, es liegt in Eurem eigenen Interesse, uns bei Euch zu behalten. Also, für diesmal schuldet Ihr mir folgendes.«
Sie rechnete ihm rasch den Anteil vor, der ihr zukam, was den guten Mann einigermaßen in Verwirrung brachte.
Doch war er bereits überzeugt, ein wagemutiger Geschäftsmann zu sein.
Ein wenig später trat Angélique in den Hof, um die frische Morgenluft einzuatmen. Sie drückte die Hand, die die Goldstücke umschloß, fest an die Brust. Dies war der Schlüssel zur Freiheit. Meister Bourgeaud war gewiß nicht betrogen worden. Angélique rechnete sich aus, daß sie mit ihrer kleinen Truppe, falls sie sich von den Überbleibseln der Festmähler ernähren und in Zukunft mit ihren Bemühungen auch ihre Einnahmen vermehren konnte, schließlich ein kleines Vermögen zusammentragen würde. Dann könnte man versuchen, etwas anderes zu unternehmen. Warum, zum Beispiel, nicht jenes Patent auf die Herstellung eines Schokolade genannten exotischen Getränks ausnützen, das David Chaillou zu besitzen behauptete?
Die Leute aus dem Volk würden wohl kaum etwas dafür übrig haben, aber vielleicht würden die immer nach Neuartigem und Absonderlichem gierenden Stutzer und »Preziösen« eine Mode daraus machen.
Angélique sah schon die Kutschen der vornehmen Damen und bändergeschmückten Edelleute in der Rue de la Vallée-de-Misère halten.
Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es hatte keinen Sinn, zu weit in die Ferne zu schauen. Noch war ihr Leben gefährdet. Worauf es in erster Linie ankam, war einzuheimsen, wie eine Ameise einzuheimsen. Der Reichtum war der Schlüssel zur Freiheit, die Gewähr, nicht zu sterben, seine Kinder nicht sterben, die Gewähr, sie lachen zu sehen.
Wäre ihr Besitz nicht beschlagnahmt worden, hätte sie Joffrey gewiß retten können.
Die junge Frau schüttelte abermals den Kopf. Nein, daran durfte sie nicht mehr denken. Denn wenn ihre Gedanken diese Richtung einschlugen, wurde sie von dem Verlangen erfaßt, für immer einzuschlummern wie in der Strömung eines Gewässers, die einen davonträgt.
Angélique blickte zum feuchten Himmel auf, an dem die Morgenröte erlosch und einem lastenden Grau wich. Der Ruf des Branntweinverkäufers erklang auf der Gasse. Am Hofeingang leierte ein Bettler sein Klagelied. Als sie ihn genauer ins Auge faßte, erkannte sie Pain-Noir. Pain-Noir mit seinem Lumpen, seinen falschen Beulen, seinen Muscheln, Pain-Noir, den ewigen Pilger des Elends.
Von Angst erfaßt, holte sie ein Brot und einen Napf Fleischsuppe aus der Küche und brachte sie ihm. Der Gauner starrte sie unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor böse an. Sie sprachen kein Wort.
Ein paar Tage lang teilte Angélique noch ihre Zeit zwischen den Kasserollen Meister Bourgeauds und den Blumen Mutter Marjolaines. Die Blumenverkäuferin hatte sie um Aushilfe gebeten, denn die Geburt des königlichen Kindes rückte näher, und jene Damen waren stark überlastet.
An einem Novembertag, als sie auf dem Pont-Neuf saßen, begann die Turmuhr des Justizpalastes zu schlagen, der Stundenschläger der Samaritaine ergriff seinen Hammer, und in der Ferne hörte man die dumpfen Böllerschüsse der Bastille-Kanone.
Die Bevölkerung von Paris geriet in äußerste Spannung.
»Die Königin ist niedergekommen! Die Königin ist niedergekommen!«
Atemlos zählte die Menge:
»Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig .«
Beim dreiundzwanzigsten Schuß begannen die Leute sich zu streiten. Einige behaupteten, es sei der fünfundzwanzigste, andere, es sei der zweiundzwanzigste. Die ersten waren die Optimisten, die letzteren die Pessimisten. Und noch immer regneten das Geläute, die Glockenspiele, die Böllerschüsse über das von einem Taumel der Begeisterung ergriffene Paris.
Kein Zweifel mehr: ein Knabe!
»Ein Thronfolger! Ein Thronfolger! Es lebe der Thronfolger! Es lebe die Königin! Es lebe der König!«
Man umarmte einander. Der Pont-Neuf brach in Freudengesänge aus. Die Läden und Werkstätten machten ihre Türen dicht. Die Springbrunnen ver-spien Ströme von Wein. An großen Tischen, die von den Lakaien des Königs auf den Straßen aufgestellt wurden, delektierte man sich an Pasteten und Konfekt.
Am Abend wurde auf der Seine vor dem Louvre ein Feuerwerk abgebrannt, das alle Welt begeisterte. Ein Schiff, von funkensprühenden Meeresungeheuern umrahmt, die die Feinde Frankreichs versinnbildlichten, trieb auf dem Wasser. Ein schöner Kavalier auf geflügeltem Roß sprang vom Dach der LouvreGalerie und durchbohrte die Ungeheuer mit seiner Lanze. Ihre Eingeweide quollen in Form von tausend bunten Schwärmern hervor.
Endlich stieg in einem Raketenbündel eine helleuchtende Sonne zum Nachthimmel auf, und Hunderte von Sternen formten die Namen Ludwig und Maria-Theresia.
Als die Königin von Fontainebleau zurückgekehrt war und sich mit dem königlichen Säugling wieder im Louvre niedergelassen hatte, trafen die Zünfte der Stadt Vorbereitungen, ihr ihre Glückwünsche darzubringen.
Mutter Marjolaine bemerkte zu Angélique, die sie ins Herz geschlossen hatte: »Du kommst mit. Es ist zwar nicht ganz in Ordnung, aber ich erkläre dich zu meinem Lehrmädchen, das meine Blumenkörbe trägt. Wird es dir Spaß machen, den schönen LouvrePalast zu sehen? Die Zimmer dort sollen breiter und höher als Kirchen sein!«
Angélique wagte nicht abzulehnen. Die Ehre, die die gute Frau ihr erwies, war groß. Aber zugleich reizte sie die uneingestandene Neugier, dieser Stätte wiederzubegegnen, die Zeuge so vieler Ereignisse und Tragödien ihres Lebens gewesen war. Würde sie die Tränen der Rührung vergießende Grande Mademoiselle entdecken, die schamlose Herzogin von Soissons, den feurigen Lauzun, den finsteren de Guiche, de Vardes? Wer von diesen vornehmen Damen und großen Herren würde inmitten der Händlerinnen jene Frau wiedererkennen, die unlängst noch in ihrem Hofkleid, von ihrem Mohren gefolgt, durch die Gänge des Louvre geeilt und vom einen zum andern gegangen war, um die Begnadigung ihres im voraus verurteilten Gatten zu erbitten .?
Am betreffenden Tage fand sie sich mit den Blumenfrauen und Apfelsinenverkäuferinnen des Pont-Neuf und den Fischweibern der Markthalle im Hof des Palastes ein. Ihre Waren, gleichermaßen schön, doch von unterschiedlichem Geruch, begleiteten sie: Körbe mit Blumen und Obst und kleine Tonnen mit Heringen, die nebeneinander vor dem Dauphin niedergestellt werden sollten, so daß er mit seinen Händchen die zarten Rosen, die leuchtenden Orangen und die schönen, silbrigen Fische berühren könnte.