Aber sie hatte Angst. Des Nachts stand sie in der großen, stillen Stube, in der nur die Atemzüge ihrer beiden Kinder vernehmbar waren, und sah durchs Fenster auf die mondbeglänzten Fluten der Seine. Zu Füßen des Hauses befand sich ein kleiner Platz, auf den die Abfälle der Bratküchen geworfen wurden: Federn, Pfoten, Eingeweide, Reste, die man nicht mehr servieren konnte. Hunde und dunkle Elendsgestalten taten sich gütlich daran. Man hörte sie stöbern. Es war die Stunde, da die Rufe und Pfiffe der Strolche die Nacht durchschnitten. Angélique wußte, daß nur wenige Schritte entfernt, zur Linken, jenseits der Spitze des Pont-au-Change, der Quai de Gesvres begann, dessen hallendes Gewölbe die schönste Räuberhöhle der Hauptstadt bildete. Sie erinnerte sich des feuchten, weiträumigen Schlupfwinkels, durch den in Strömen das Blut der Schlächtereien der Rue de la Vieille-Lanterne floß. Jetzt hatte sie nichts mehr mit dem berüchtigten Volk der Nacht gemein. Sie gehörte zu denen, die sich in ihren wohlverwahrten Häusern bekreuzigen, wenn in den düsteren Gassen ein Todesschrei ertönte. Das war schon viel, aber würde die Last der Vergangenheit sie auf ihrem Weg nicht hemmen?
Angélique trat an das Bett, in dem Florimond und Cantor schliefen. Florimonds lange schwarze Wimpern beschatteten seine perlmutterglänzenden Wangen. Sein Haar bildete einen großen, dunklen Heiligenschein, der sich mit dem von Cantors Haaren vereinigte, die ebenso dicht und üppig wurden. Doch dessen Locken waren goldbraun, während Florimonds schwarz blieben wie die Flügel eines Raben.
Angélique stellte fest, daß Cantor »in ihre Familie schlug«. Er war von jener zugleich verfeinerten und bäuerlichen Rasse der Sancé de Monteloup. Nicht viel Herz, aber Leidenschaft. Nicht übermäßige geistige Regsamkeit, aber Klarheit. Seine eigensinnige Stirn erinnerte sie an Josselin, sein stilles Wesen an Raymond, sein Hang zur Einsamkeit an Gontran. Äußerlich ähnelte er Madelon, ohne deren Sensibilität zu besitzen.
Dieses rundliche, kleine Kerlchen mit den klaren, scharfen Augen war schon eine richtige Persönlichkeit, eine Vereinigung Jahrhunderte hindurch vererbter Tugenden und Untugenden. Vorausgesetzt, daß man ihn nicht in seiner Freiheit und Unabhängigkeit beschränkte, ließ er sich mühelos erziehen. Aber als Barbe ihn wieder ans Gängelband der Kinder seines Alters nehmen wollte und als es ihr geglückt war, ihn eng in seine Windeln zu wickeln, hatte der für gewöhnlich so sanfte Cantor nach ein paar Augenblicken der Verblüffung einen richtigen Zornanfall bekommen. Nach zwei Stunden hatte die taub gewordene Nachbarschaft seine Befreiung gefordert.
Barbe behauptete, Angélique ziehe Florimond vor und beschäftige sich zu wenig mit ihrem Jüngsten. Angélique gab zurück, Cantor habe es ja gar nicht nötig, daß man sich mit ihm beschäftige. Sein ganzes Verhalten bewies eindeutig, daß er vor allem darauf Wert legte, in Ruhe gelassen zu werden, während der sensible Florimond es gern hatte, wenn man sich mit ihm abgab, wenn man mit ihm sprach und seine Fragen beantwortete. Er brauchte viel Fürsorge und Liebe.
Zwischen Angélique und Cantor stellte sich der Kontakt ohne Worte und ohne Gesten ein. Sie waren von gleicher Art. Wenn sich nachmittags ein paar Augenblicke der Muße ergaben, setzte sie sich vors Feuer und nahm ihn auf die Knie. Sie betrachtete ihn, bewunderte sein rosiges, festes Fleisch und wurde sich der Kostbarkeit dieses Geschöpfchens bewußt, das noch nicht ein Jahr alt war und von seiner Geburt an - sogar schon vorher, dachte sie - um sein Leben gekämpft und sich gegen jede Gefahr, die seine zarte Existenz bedrohte, hartnäckig zur Wehr gesetzt hatte.
Das Kind saugte an einem Hühnerknochen, und hin und wieder warf es ihr aus seinen grünen Augen, die den ihren so ähnlich waren, einen spitzbübischen Blick zu.
Cantor war ihre Kraft und Florimond ihre Zartheit. Sie stellten die beiden Pole ihres Wesens dar.
Die Hungersnot, von der Angélique gesprochen hatte, war kein leeres Gerücht. Nach dem Fest der Heiligen Drei Könige begann sie an die Tore von Paris zu pochen. Die Ernte des Jahres war mehr als schlecht gewesen. Zu viele Truppen lagen noch auf dem Lande in Quartier, und vor allem ließ das Steuersystem den Spekulanten freies Spiel. Von ihren Innungen beschützt, litten die Lebensmittelhändler weniger Mangel als die anderen Berufe. Bratköche, Metzger, Bäcker hatten noch immer zu essen, aber die Schwierigkeiten des Geschäftslebens häuften sich. Die Kundschaft wurde rar. Angélique war bekümmert bei dem Gedanken, daß die gute Saison der Feste nicht das einbrachte, was sie erhofft hatte. Aber - Gott sei’s gelobt - sie und ihre kleine Truppe waren vor der Prüfung bewahrt. Sie pries sich wieder einmal glücklich, grade in einer Bratküche Zuflucht gesucht zu haben. Sonst wären sie und ihre Kinder im Verlaufe dieser tragischen Monate wohl verhungert.
- Abermals litten die Pariser Hunger, abermals raffte die Pest, seine ständige Begleiterin, die Menschen dahin. Und abermals trugen die Prozessionen, die die Fürsprache des Himmels erflehten, das prunkende Gold der Reliquienschreine und Banner durch die vereisten Straßen, auf denen von der Seuche dahingeraffte oder von der Kälte zu Boden gezwungene Menschenleiber verwesten.
Im Louvre ließ der König importiertes Korn an die Armen austeilen. Man nannte es »das Korn des Königs«. Der Strom der Ausgehungerten, der Zerlumpten wie der verschämten Armen, die sich verkrochen, um zu sterben, wuchs von Tag zu Tag.
In die Rue de la Vallée-de-Misère flüchteten sich viele, denen die Teuerung dank ihrer wohlgefüllten Börsen nur geringe Beschränkungen auferlegte. Als Angélique einigermaßen wieder zur Besinnung gekommen war, sagte sie sich, daß man die Situation nutzen müsse. War es nicht billig, daß man diese feinen Herren für die Mühe zahlen ließ, die man sich gab, um ihnen Geflügel und Braten zu verschaffen? Mußte sie sich nicht für die Gefahren schadlos halten, denen sie auf den Expeditionen ausgesetzt war, die sie, nur von David begleitet, in die Umgebung von Meudon oder Grenelle unternahm, um heimlich Hammel oder Hühner einzukaufen? Ja, all das mußte man sich gebührend bezahlen lassen. Die Gäste hatten dafür auch durchaus Verständnis. Sie waren reich, aber sie konnten ihr Geld nicht essen, während die Bratköche, Metzger, Kuchenbäcker immer etwas zu essen hatten.
Drei furchtbare Monate verstrichen. Die Kälte nahm zu, die Hungersnot nahm zu, die Zahl der Bettler nahm zu, die sich um Meister Bourgeauds Bratküche drängten. Angélique entschloß sich, Cul-de-Bois aufzusuchen. Sie wußte, daß sie es längst schon hätte tun sollen. Barcarole hatte es ihr geraten, aber es schwindelte ihr bei dem Gedanken, noch einmal das Haus des Großen Coesre betreten zu müssen.
Wiederum galt es, sich zu überwinden, einen Schritt weiter zu gehen, eine neue Schlacht zu gewinnen. In einer dunklen, eisigen Nacht begab sie sich endlich zum Faubourg Saint-Denis.
Man führte sie vor Cul-de-Bois. Er hockte inmit-ten des Rauchs und Rußes der Öllampen wie ein groteskes Götzenbild auf einer Art Thron. Vor ihm auf der Erde stand das Kupferbecken. Sie warf eine schwere Börse hinein und überreichte Geschenke: einen mächtigen Schinken und ein Brot, im Augenblick wahre Raritäten.
»Nicht übel!« brummte Cul-de-Bois. »Ich erwarte dich schon lange, Marquise. Weißt du, daß du ein gefährliches Spiel getrieben hast?«
»Ich weiß, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn ich noch lebe.«
Zu beiden Seiten des Throns standen die Schreckgestalten des grausigen Hofstaats: der große und der kleine Eunuch mit ihren Insignien, dem Besen und der Mistgabel mit dem aufgespießten Hund, sowie Jean-le-Barbon mit seinem wallenden Bart und der Rute des ehemaligen Zuchtmeisters des Gymnasiums von Navarra.