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»Angélique, Ihr verliert den Verstand! Es ist Zeit, daß man Euch der Gesellschaft jener Freigeister entreißt, deren Reden Ihr Euch unrechterweise anhört. Ich glaube wirklich, daß Ihr nicht nur einen Beschützer braucht, sondern auch einen Mann, der Euch bändigt und auf Euren Platz als Frau verweist. Zwischen Eurem Onkel und seinem Kretin von Neffen, die Euch anbeten, glaubt Ihr Euch alles herausnehmen zu können. Ihr seid zu sehr verwöhnt worden, man müßte Euch dressieren .«

»Oh, meint Ihr wirklich?« erwiderte Angélique gähnend.

Die Auseinandersetzung hatte abkühlend auf sie gewirkt. Sie streckte sich behaglich im Heu aus, nachdem sie listig ihren langen Rock so weit hochgehoben hatte, daß ihre feinen Knöchel sichtbar wurden.

»Euer Schaden«, murmelte sie.

Fünf Minuten später schlief sie. Mit klopfendem Herzen betrachtete Audiger den gelöst sich selbst überlassenen, geschmeidigen Körper. Sie war von mittlerem Wuchs, aber so wohlproportioniert, daß sie groß wirkte. Er hatte nie ihre Knöchel gesehen; sie ließen schöngeschwungene Beine ahnen, schöne Frauenbeine, die im Liebeskampf den Körper des Mannes, der sich zu ihrem Herrn aufgeworfen hatte, wollüstig pressen würden.

Audiger entschloß sich zu gehen, um einer Versuchung zu entrinnen, der er zu erliegen drohte.

Angélique träumte, sie führe in einem Heukahn übers Meer. Eine Hand streichelte sie, und eine Stimme sagte zu ihr: »Weine nicht.«

Sie erwachte und stellte fest, daß sie allein war. Die Sonne, die langsam am Horizont niedersank, wärmte sie mit ihren letzten Strahlen.

Noch regte sich ein sehnsüchtiges Verlangen in ihr. Sie strich sanft über ihre mit seidigem Flaum bedeckten Arme. »Deine Schultern sind zwei Elfenbeinkugeln, deine Brüste sind genau für die Höhlung der Hand eines Mannes geschaffen .«

Was mochte aus jenem wunderlichen schwarzen Vogel, aus dem Mann im Heukahn, geworden sein? Er hatte verliebte, träumerische und im nächsten Augenblick spöttische Worte gesprochen. Er hatte sie lange geküßt. Vielleicht lebte er gar nicht mehr?

Sie raffte sich auf und schüttelte die Halme von ihrem Kleid. Dann begab sie sich in den Mühlengasthof zu dem geduldig wartenden Audiger und bat ihn verdrossen, sie nach Paris zurückzubringen.

In der herbstlichen Morgendämmerung erging sich Angélique auf dem Pont-Neuf. Sie hatte Blumen gekauft und nutzte die Gelegenheit, um langsam vom Krambude zu Krambude zu schlendern. Vor der wie immer umlagerten Bühne des Großen Matthieu blieb sie stehen und zuckte zusammen. Der Große Matthieu war im Begriff, einem vor ihm knienden Mann einen Zahn zu ziehen. Der Patient ließ die Prozedur mit weit aufgesperrtem Mund über sich ergehen, aber Angélique erkannte seine blonden und borstigen Haare, die wie Maisstroh aussahen, und seinen abgetragenen schwarzen Mantel. Es war der Mann vom Heukahn.

Die junge Frau machte von ihren Ellbogen Gebrauch, um sich in die erste Reihe zu drängen, dicht vor den Großen Matthieu, dem trotz der Morgenkühle der Schweiß von der Stirn troff.

»Schockschwerenot«, ächzte er, »der ist aber widerspenstig! Heiliger Himmel, sitzt der fest!«

Er unterbrach seine Verrichtung, um sich den Schweiß abzuwischen, nahm das Instrument aus dem Mund seines Opfers und fragte:

»Tut’s weh?«

Der andere wandte sich dem Publikum zu und schüttelte lächelnd den Kopf. Kein Zweifel, er war es, der Mann vom Heukahn mit seinem bleichen Gesicht, dem breiten Mund und den Grimassen eines verdutzten Harlekins.

»Seht Euch das an, Ihr Damen und Herren!« rief der Große Matthieu. »Ist das nicht ein wahres Wunder? Hier ist ein Mann, der keine Schmerzen empfindet, obwohl sein Zahn widerspenstig wie ein Maulesel ist. Und durch welches Wunder empfindet er keine Schmerzen? Dank dem Balsam, mit dem ich vor der Operation seinen Kiefer einrieb. Der Inhalt dieses Fläschchens garantiert das Vergessen aller Leiden. Bei mir wird dank dem wundertätigen Balsam jeder Schmerz betäubt, und man zieht Euch die Zähne, ohne daß Ihr’s merkt. Kommt, mein Freund, kehren wir wieder zum Geschäft zurück.«

Der andere sperrte bereitwillig den Mund auf. Unter Flüchen und heftigem Geschnaufe machte sich der Quacksalber von neuem ans Werk, bis er endlich mit Triumphgeheul den ominösen Zahn am Ende seiner Zange schwang.

»Da haben wir ihn! Habt Ihr etwas gespürt, mein Freund?«

Der andere stand, noch immer lächelnd, auf und schüttelte den Kopf.

»Brauche ich noch etwas zu sagen? Dieser Mann hat Höllenqualen gelitten, als er zu mir kam, und nun geht er frisch und vergnügt von dannen. Dank dem wundertätigen Balsam, den ich als einziger anwende, wird niemand mehr zögern, sich der stinkenden Gewürznelken zu entledigen, die dem Mund eines anständigen Christenmenschen Schande machen. Man wird lächelnd zum Zahnzieher kommen.

Heraufspaziert, Ihr Damen und Herren! Schmerz existiert nicht mehr! Der Schmerz ist tot.«

Unterdessen hatte der Kunde seinen Spitzhut aufgesetzt und stieg vom Podest herunter. Angélique folgte ihm. Sie hätte ihn gern angesprochen, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie wiedererkennen würde.

Langsam trottete er den Quai des Morfondus unterhalb des Justizpalastes entlang. Ein paar Schritte vor ihr sah sie in den von der Seine aufsteigenden Nebeln die wunderliche, schmale Silhouette schwimmen. Abermals kam er ihr unwirklich vor. Er schritt wie zögernd dahin, blieb stehen, ging wieder weiter.

Plötzlich verschwand er. Angélique stieß einen leisen, erschrockenen Schrei aus. Doch dann begriff sie, daß der Mann nur ein paar Stufen zum Wasser hinuntergegangen war. Ohne zu überlegen, folgte sie ihm und wäre beinahe auf den Unbekannten geprallt, der sich stöhnend an die Ufermauer lehnte.

»Was fehlt Euch?« fragte Angélique. »Seid Ihr krank?«

»Oh, ich komme um vor Schmerzen!« erwiderte er mit kraftloser Stimme. »Dieser rohe Bursche hat mir beinah den Kopf abgerissen. Und mein Gebiß ist bestimmt beim Teufel.« Er spie eine Menge Blut aus.

»Aber Ihr habt doch gesagt, es täte Euch nicht weh?«

»Ich habe gar nichts gesagt, denn ich wäre nicht dazu fähig gewesen! Und der Große Matthieu hat mir ein hübsches Sümmchen gegeben, damit ich diese kleine Komödie spiele.« Er stöhnte und spie abermals. Sie fürchtete, er würde ohnmächtig werden.

»Das ist doch töricht! Ihr hättet nicht darauf eingehen sollen.«

»Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.«

Angélique legte ihren Arm um den mageren Oberkörper des Unbekannten. Er war größer als sie, aber so leicht, daß sie sich kräftig genug fühlte, dieses armselige Gerippe zu stützen.

»Kommt, Ihr sollt heute einmal gut essen«, versprach sie. »Und es wird Euch nichts kosten. Keinen Zahn ... und auch keinen Sol.«

In Wirtshaus angelangt, lief sie in die Küche, um etwas zu suchen, das einem Opfer des Hungers und des Zahnziehers behagen konnte. Sie fand Brühe und eine schöne, mit Gürkchen gespickte Ochsenzunge und brachte sie ihm samt einer Kanne Wein und einem großen Topf Senf.

»Fangt nur damit an. Hernach werden wir weitersehen.«

Die lange Nase des armen Schluckers schnupperte, und er richtete sich wie neubelebt auf. »O köstlicher Suppenduft!« murmelte er. »Gesegneter Extrakt der göttlichen Gewächse des Gemüsegartens!«

Sie ließ ihn allein, um ihn sich in aller Ruhe sättigen zu lassen. Nachdem sie ihre Anweisungen gegeben und festgestellt hatte, daß alles für das Erscheinen der Gäste parat war, trat sie in die Anrichte, um eine Soße zu machen. Es war ein kleiner Raum, in den sie sich einzuschließen pflegte, wenn sie ein besonders delikates Gericht zubereiten wollte.