Javotte kam herein, um ihr beim Auskleiden be-hilflich zu sein.
»Was ist denn das für ein Geräusch an der Haustür?« forschte Angélique.
»Ich weiß nicht. Es klingt, als nage eine Ratte am Holz.«
Die junge Frau trat in den Vorplatz hinaus und stellte fest, daß das Geräusch nicht vom unteren Teil der Tür, sondern von dem kleinen Guckloch auf halber Höhe kam. Sie schob das Brettchen zurück und stieß einen leisen Schrei aus, denn sofort hatte sich eine kleine, schwarze Hand durch das Gitter der Öffnung gezwängt und sich verzweifelt nach ihr ausgestreckt.
»Es ist Piccolo!« riefJavotte aus.
Angélique öffnete die Tür, und der Affe stürzte sich in ihre Arme.
»Was hat denn das zu bedeuten? Er ist noch nie allein hierhergekommen. Man könnte meinen . ja, tatsächlich, man könnte meinen, er habe sich von seiner Kette losgerissen.« Beunruhigt trug sie das Tierchen in ihr Zimmer und setzte es behutsam auf den Tisch.
»O lala!« rief die Magd lachend aus. »Der ist ja in einem netten Zustand! Sein Fell ist ganz verklebt und rot. Er muß in Wein gefallen sein.«
Angélique, die Piccolo streichelte, roch an ihren geröteten Fingern und fühlte sich alsbald schreckensbleich werden.
»Das ist kein Wein«, sagte sie, »es ist Blut!«
»Ist er verletzt?«
»Ich will mal sehen.«
Sie streifte ihm Jäckchen und Höschen ab, die beide blutdurchtränkt waren. Indessen zeigte das Tier keinerlei Spuren einer Verletzung, obwohl es von krampfartigen Zuckungen geschüttelt wurde.
»Was hast du, Piccolo?« fragte Angélique leise. »Was ist denn geschehen, mein kleines Kerlchen? Erklär mir’s doch!«
Der Affe sah sie mit seinen traurigen, weitaufge-rissenen Augen an. Plötzlich machte er einen Satz, erwischte ein Kästchen mit Siegellack und begann, höchst würdevoll auf und ab zu schreiten, indem er das Kästchen vor sich hertrug.
»O dieser Schelm!« riefJavotte aus und lachte schallend. »Erst jagt er uns einen ordentlichen Schrecken ein, und nun ahmt er Linot mit seinem Oblatenkorb nach. Ist das nicht zum Verwundern, Madame? Genau wie Linot, wenn er auf seine anmutige Art seinen Korb anbietet.«
Aber nachdem das Tierchen eine Runde um den Tisch gemacht hatte, schien es abermals von Unruhe erfaßt zu werden. Es schaute sich um und wich zurück. Sein Mund zog sich zu einem zugleich kläglichen und ängstlichen Ausdruck zusammen. Es hob das Gesicht nach rechts, dann nach links. Es war, als wende es sich flehend an irgendeine unsichtbare Person. Schließlich schien es sich zu wehren, zu kämpfen. Es ließ das Kästchen los, preßte beide Hände gegen seinen Bauch und fiel mit einem schrillen Schrei auf den Rücken.
»Was hat er denn nur? Was hat er nur?« stammelte Javotte bestürzt. »Ist er krank? Ist er verrückt geworden?«
Doch Angélique, die das Treiben des Affen aufmerksam beobachtet hatte, ging raschen Schrittes zum Kleiderrechen, nahm ihren Umhang ab und ergriff ihre Maske.
»Ich glaube, Linot ist etwas zugestoßen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich muß hinübergehen.«
»Ich begleite Euch, Madame.«
»Wenn du willst. Du kannst die Laterne tragen. Bring erst den Affen zu Barbe hinauf, damit sie ihn säubert, wärmt und ihm Milch zu trinken gibt.«
Trotz der beruhigenden Worte, die Javotte ihr unterwegs zuflüsterte, zweifelte Angélique keinen Augenblick, daß Piccolo einer fürchterlichen Szene beigewohnt hatte. Aber die Wirklichkeit übertraf ihre schlimmsten Ahnungen. Als sie auf den Quai des Tanneurs einbog, wäre sie fast von einem verstört dreinblickenden jungen Burschen umgerannt worden. Es war Flipot.
Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, um ihn zu klarer Besinnung zu bringen.
»Ich wollte dich holen, Marquise der Engel«, stammelte der Junge. »Sie haben ... sie haben Linot umgebracht!«
»Wer sie?«
»Sie ... Jene Männer, die Gäste.«
»Weshalb? Was ist geschehen?«
Der arme Küchenjunge schluckte und berichtete dann überstürzt, als ob er eine auswendig gelernte Lektion aufsage:
»Linot war auf der Straße mit seinem Korb. Er sang: >Oblaten! Oblaten! Wer kauft Oblaten .. .?< Er sang wie jeden Abend. Einer der Gäste, die bei uns waren, einer von den maskierten Edelleuten in Spitzenkragen, sagte: Welch hübsche Stimme! Ich verspüre Lust auf Oblaten. Man bringe den Verkäufer her.< Linot kam, und der Edelmann sagte: >Beim heiligen Dionysius, dieser Junge ist ja noch verführerischer als seine Stimme!< Er nahm Linot auf die Knie und küßte ihn ab. Andere kamen dazu und wollten ihn auch küssen ... Sie waren alle blau wie die Märzveilchen ... Schließlich packten sie Linot und wollten ihm die Hose ausziehen . Er ließ seinen Korb fallen und fing an zu schreien und ihnen Fußtritte zu versetzen. Der Edelmann, der ihn zuerst hatte haben wollen, zog seinen Degen und bohrte ihn ihm in den Leib. Linot sank zusammen .«
»Ist Meister Bourgeaud denn nicht eingeschritten?«
»Doch, aber sie haben ihn entmannt.«
»Wie? Was sagst du? Wen haben sie .?«
»Meister Bourgeaud. Als er Linot schreien hörte, ist er aus der Küche gekommen. Er sagte: >Messeigneurs! Nicht doch! Messeigneurs!< Aber sie sind über ihn hergefallen. Sie lachten und verprügelten ihn und riefen: >Alter Säufer! Dickes Faß!< Wider meinen Willen hab’ ich schließlich lachen müssen. Und dann hat einer gesagt: >Ich erkenne ihn, er ist der ehemalige Wirt des »Kecken Hahns« ...< Ein anderer sagte: >Für einen Hahn bist du nicht sonderlich keck, ich werde einen Kapaun aus dir machen.< Er nahm ein großes Fleischmesser, sie alle fielen von neuem über ihn her und haben ihm . was abgeschnitten.«
Der Junge machte eine Bewegung, die keinen Zweifel über die Art der Verstümmelung zuließ, deren Opfer der arme Bratkoch geworden war.
»David haben sie eins mit dem Degen über den Kopf gegeben, als er sie aufhalten wollte, und wir andern haben uns schleunigst aus dem Staube gemacht.«
Die Rue de la Vallée-de-Misère bot beinahe den üblichen Anblick. Sie war, wie immer in dieser Karnevalszeit, sehr belebt, und aus den von zahlreichen Gästen besetzten Bratstuben erscholl fröhlicher Gesang und Gläserklirren. An ihrem Ende jedoch hatte sich vor der »Roten Maske« eine ungewöhnliche Anhäufung von weißen Gestalten mit hohen Mützen zusammengefunden. Die benachbarten Bratköche und ihre Küchenjungen standen, mit Spicknadeln und Bratenwendern bewaffnet, aufgeregt gestikulierend vor der Schenke.
»Wir wissen nicht, was wir tun sollen!« rief einer von ihnen Angélique zu. »Diese Teufel haben die Tür mit Bänken verrammelt. Und sie haben eine Pistole .«
»Man muß die Polizei holen.«
»David ist schon hingelaufen, aber .«
Der Wirt vom »Gerupften Kapaun«, dem Nachbarlokal der »Roten Maske«, fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
». er wurde in der Rue de la Triperie von Lakaien aufgehalten. Sie erzählten ihm, die Gäste, die sich im Augenblick in der >Roten Maske< befänden, seien sehr hochmögende Edelleute, Persönlichkeiten aus der nächsten Umgebung des Königs. Die Polizei werde ein komisches Gesicht machen, wenn sie sich in diese Geschichte hineingezogen sähe. David ist trotzdem zum Châtelet gelaufen, aber die Lakaien hatten bereits die Wachen verständigt, und er bekam zur Antwort, daß er gefälligst selbst sehen solle, wie er mit seinen Gästen fertig werde.«
Aus der Schenke zur »Roten Maske« drang fürchterlicher Lärm: viehisches Gelächter, johlender Gesang und ein so wildes Geschrei, daß sich den biederen Bratköchen die Haare unter ihren Mützen sträubten.
Da auch vor den Fenstern Tische und Bänke aufgetürmt worden waren, konnte man nicht erkennen, was im Innern vorging, aber das Klirren zerschmetterten Geschirrs war zu hören und von Zeit zu Zeit der trockene Knall einer Pistole. Offenbar nahmen sich die Herren die schönen Karaffen aus kostbarem Glas zum Ziel, mit denen Angélique ihre Tische und den Kaminsims geschmückt hatte.