Trotz dieser Worte fühlte sich Angélique auch weiterhin unerklärlich beunruhigt. Oftmals im Lauf des Tages drängte sich das pockennarbige Gesicht des Haushofmeisters in ihre Gedanken. Und doch war dieser Mann das einzige Stück »Heimat« in Languedoc, ein vorzüglich geschulter Diener, der sich nie einen Tadel zugezogen hatte. Er war zurückhaltend und ziemlich still, aber das Hausgesinde fürchtete ihn. Man erkannte seine Erfahrung und seine Fähigkeiten an, und immer gab es einen Schwarm junger Burschen, die als Küchenjungen in das Palais des Grafen Peyrac aufgenommen werden wollten, um unter der Leitung Clément Tonnels ihre Lehrzeit durchzumachen. Indessen mochte man ihn nicht, und das war verständlich, denn er stammte aus einer andern Gegend und hatte ein steifes Wesen.
Kurze Zeit danach erbat er Urlaub, um zur Regelung von Erbschaftsangelegenheiten nach Niort zurückzukehren. »Er hört offenbar nie auf zu erben«, dachte Angélique. Sie erinnerte sich, daß er schon einmal aus dem gleichen Grunde eine Stelle hatte verlassen müssen. Meister Clément versprach, im kommenden Monat zurück zu sein, aber als sie ihn sorgfältig das Gepäck auf seinem Pferd verschnüren sah, überkam Angélique eine Ahnung, daß sie ihn nicht so bald wiedersehen würde. Ihre Absicht, ihm einen Brief für ihre Familie anzuvertrauen, gab sie im letzten Augenblick auf.
Als er abgereist war, wurde sie plötzlich von dem unerklärlichen Verlangen erfaßt, Monteloup und das Heimatland wiederzusehen. Dabei sehnte sie sich nicht einmal so sehr nach ihrem Vater. Obzwar sie sehr glücklich geworden war, grollte sie ihm immer noch ein wenig wegen der Art, in der er sie verheiratet hatte. Ihre Brüder und Schwestern waren in alle Winde verstreut. Der alte Wilhelm war tot, und den Briefen, die sie bekam, entnahm sie, daß die Tanten zänkisch und kindisch und die Amme immer despotischer wurden. Ihre Gedanken wanderten kurz zu Nicolas, aber Nicolas war nach ihrer Hochzeit aus der Gegend verschwunden.
Angélique ging ihrem Wunsch auf den Grund und wurde sich bewußt, daß nur der Gedanke sie in die Heimat trieb, Schloß Plessis aufzusuchen und festzustellen, ob sich das berüchtigte Giftkästchen noch in seinem Versteck befand. Eigentlich bestand kein Grund, warum es nicht mehr dort sein sollte.
Es war höchstens zu entdecken, wenn man das Schloß abtrug. Wie kam es, daß diese alte Geschichte sie plötzlich so beschäftigte? Die damaligen Rivalitäten lagen weit zurück. Kardinal Mazarin, der König und sein jüngerer Bruder waren noch am Leben. Monsieur Fouquet war zu Macht und Ehren gekommen, ohne ein Verbrechen begehen zu müssen. Und wurde nicht von einer Rückkehr des Fürsten Condé in Gnaden gesprochen?
Sie schüttelte ihre Bedenken ab und gewann bald ihre Ruhe zurück.
Im Hause Angéliques wie im ganzen Königreich herrschte eitel Freude. Und der Erzbischof von Toulouse, der für den Augenblick wichtigere Sorgen hatte, hörte für eine Weile auf, seinen Rivalen, den Grafen Peyrac, argwöhnisch zu bespitzeln. Seine Eminenz war nämlich zugleich mit dem Erzbischof von Bayonne eingeladen worden, Mazarin auf seiner Reise nach den Pyrenäen zu begleiten.
Ganz Frankreich erzählte sich die Neuigkeit: Mit einem Aufgebot an Gefolge, als wolle er die Welt aus den Angeln heben, begab sich der Herr Kardinal auf eine Insel des Flusses Bidassoa im Baskenland, um dort mit den Spaniern den Frieden auszuhandeln. Es würde also vorbei sein mit dem ewigen Krieg, der alljährlich zusammen mit den Frühlingsblumen wiederauflebte. Doch mehr noch als diese so ersehnte Nachricht erfüllte ein unglaubliches Projekt auch den bescheidensten Handwerker des Königreichs mit Genugtuung. Als Friedenspfand bot das stolze Spanien dem jungen König von Frankreich seine Infantin als Gattin an. So warf sich, allem Groll und allen neidischen Blicken zum Trotz, beiderseits der Pyrenäen jedermann in die Brust, denn im damaligen Europa, zwischen dem im Aufruhr befindlichen England, den winzigen deutschen und italienischen Fürstentümern und jenen bürgerlichen Völkern, die man »die Seeleute« nannte: Flamen und Holländer, waren allein diese beiden Fürsten einander würdig.
Welchen anderen König konnte man schon für die Infantin ausersehen, die einzige Tochter Philipps IV., das reine Idol mit der perlmutterglänzenden Haut, die im Schatten düster-prunkvoller Paläste aufgewachsen war?
Und welche andere Prinzessin bot diesem jungen, fünfzehnjährigen Prinzen, der Hoffnung einer der größten Nationen, so viele Garantien für Adel und sonstige Vorzüge?
Seit Jahren hatte Monsieur de Lionne, der Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, in wachsender Verlegenheit die Porträts sämtlicher heiratsfähiger Prinzessinnen der Christenheit geprüft. Eine Zeitlang hatte die Große Mademoiselle in Frage gestanden, die sechs Jahre ältere Kusine des Königs, das einzige wirklich reiche Mädchen der Familie. Doch durch den Kanonenschuß, den die enragier-te Fronde-Anhängerin auf die königlichen Truppen abfeuern ließ, hatte dieses schöne Projekt einiges an Glanz eingebüßt.
Dann sprach man von Margarete von Savoyen, und der Hof machte sich nach Lyon auf den Weg. Doch während man dort tanzte und sich allmählich zu erwärmen begann, erschien ein anonymer Bote an einer Geheimtür; er wurde von Monsieur Colbert, dem Intendanten des Kardinals, in einem Winkel empfangen und durch dunkle Gänge in ein abgelegenes Kabinett geführt. Dort gesellte sich der Kardinal hinzu, und es wurde lange geflüstert. Dann kehrte Mazarin zur Königin Anna von Österreich unter die funkelnden Lüster zurück und flüsterte ihr zwischen zwei Gängen zu:
»Die Infantin gehört uns. Wir haben hier nichts mehr zu suchen.«
Natürlich kommentierten die Provinzhöfe diese Ereignisse mit Leidenschaft, und die Damen von Toulouse sagten, der König weine heimlich sehr viel, denn er sei unsterblich in eine kleine Kindheitsfreundin verliebt, die braune Marie Mancini, Nichte des Kardinals. Doch die Staatsraison ließ nicht mit sich spaßen. Bei dieser Gelegenheit bewies der Kardinal auf schlagende Weise, daß der Ruhm seines königlichen Zöglings und das Wohl des Königreichs vor allem anderen den Vorrang hatten.
Er wollte den Frieden als Krönung der Intrigen, die seine geschickten italienischen Hände seit Jahren spannen. Seine Familie wurde unbarmherzig beiseite geschoben. Ludwig XIV. würde die Infantin heiraten.
So näherte sich der Kardinal mit acht Kutschen für seine eigene Person, zehn Wagen für sein Gepäck, vierundzwanzig Maultieren, hundertfünfzig livrierten Dienern, hundert Reitern und zweihundert Fußsoldaten den smaragdgrünen Ufern von Saint-Jean-de-Luz. Unterwegs forderte er die Erzbischöfe von Bayonne und Toulouse mit ihrem gesamten Gefolge an, um die pompöse Wirkung der Abordnung zu steigern. Währenddessen überquerte auf der andern Seite des Gebirges Don Luis de Haro, der Vertreter
Seiner Allerchristlichsten Majestät, der so großem Aufwand nur stolze Schlichtheit entgegensetzte, das Hochplateau von Kastilien; er führte in seinen Truhen lediglich Wandteppiche mit sich, deren Szenen jedermann an den Ruhm des alten Königreichs Karls V. erinnern sollten.
Niemand hatte es eilig, denn keiner der beiden wollte als erster ankommen und sich der Demütigung aussetzen, auf den andern warten zu müssen. Zuletzt trottete man Meter für Meter dahin, und durch ein wahres Wunder der Etikette erreichten der Italiener und der Spanier am selben Tage, zur selben Stunde die Ufer der Bidassoa. Darauf verging die Zeit in Unentschlossenheit. Wer würde als erster den Kahn zu Wasser lassen, um zur kleinen Fasaneninsel in der Mitte des Stroms überzusetzen, wo die Begegnung stattfinden sollte? Jeder fand die Lösung, die seinen Stolz schonte. Der Kardinal und Don Luis ließen einander gleichzeitig mitteilen, sie seien krank. Da die List infolge zu großer Übereinstimmung fehlgeschlagen war, mußte man hübsch abwarten, bis die »Krankheiten« sich ausgetobt hatten, doch fürs erste wollte keiner gesunden.