Sie fuhr sich müde über die Stirn.
»Ich muß gegen fünf Uhr in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie zu Margot. »Gehen wir so lange in eine Schenke, wo man uns zu trinken und zu essen geben wird.«
»Eine Schenke?« wiederholte die Zofe entrüstet. Madame, das ist kein Ort für Euch.«
»Findest du, daß das Gefängnis ein Ort für meinen Gatten ist? Ich bin hungrig und durstig. Du bist es ganz gewiß auch. Mach keine Geschichten, wir wollen uns ausruhen.«
Sie nahm sie vertraulich beim Arm und lehnte sich an sie. Sie war kleiner als Margot, und daher kam es wohl, daß sie sich lange Zeit hindurch von der Kammerfrau hatte bestimmen lassen.
Jetzt kannte sie sie genau. Lebhaft, heftig und empfindlich, wie sie war, bewahrte Marguerite, genannt Margot, eine unerschütterliche Anhänglichkeit zur Familie de Peyrac.
»Vielleicht möchtest auch du mich verlassen?« sagte Angélique unvermittelt. »Ich weiß absolut nicht, wie das alles ausgehen wird. Du hast ja gesehen, wie schnell die Diener es mit der Angst zu tun bekamen, und sie haben vielleicht nicht unrecht.«
»Ich habe nie daran gedacht, dem Beispiel der Diener zu folgen«, erklärte Margot, deren Augen wie glühende Kohlen funkelten, verächtlich. Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu:
»Mein ganzes Leben wird von einer einzigen Erinnerung beherrscht. Ich bin zu ihm in die Kiepe des katholischen Bauern gesteckt worden, der ihn zu seinen Eltern nach Toulouse zurückbrachte. Es war nach dem Massaker der Leute meines Dorfs, bei dem auch meine Mutter, seine Amme, den Tod fand. Ich war knapp vier Jahre alt, aber ich erinnere mich an jede Einzelheit. Er war völlig erschöpft und stöhnte. Ich wischte sein blutendes Gesichtchen ungeschickt ab, und da er vor Durst umkam, stopfte ich ihm ein wenig Schnee zwischen die Lippen. Genausowenig wie damals werde ich ihn heute im Stich lassen, und sollte ich auf dem Stroh einer Gefängniszelle sterben ...«
Angélique erwiderte nichts, aber sie schmiegte sich noch enger an sie und legte einen Augenblick ihre Wange an die Schulter der Zofe.
Nicht viel später fanden sie in der Nähe der Porte de Nesle vor der kleinen Brücke, die den alten Stadtgraben überquerte, eine Schenke. Die Wirtin bereitete ihnen ein Frikassee auf dem Herd, während sie Rotwein tranken und runde Brötchen verzehrten.
Es waren kaum Leute im Raum, nur ein paar Soldaten, die neugierig die vornehm gekleidete Dame musterten, die da an einem derben Tisch saß.
Durch die offenstehende Tür betrachtete Angélique die finstere Tour de Nesle mit ihrem kleinen Anbau. Von ihr waren einstmals die Liebhaber der mannstollen Marguerite de Bourgogne, Königin von Frankreich, die maskiert durch die Gassen gegangen war und sich Studenten mit frischen Gesichtern gegriffen hatte, in den Fluß gestürzt worden.
Jetzt war der verfallene Turm von der Stadt an Wäscherinnen vermietet worden, die ihre Wäsche über die Zinnen und Schießscharten hängten.
Der Ort war still und fast menschenleer. Flußschiffer zogen ihre Kähne in den Morast der Ufer. Kinder angelten in den Gräben ...
Als es zu dunkeln begann, überquerte Angélique abermals den Fluß, um sich in die Tuilerien zu begeben.
Am Pavillon de Flore kam ihnen der Chevalier de Lorraine persönlich entgegen und führte sie zu einer Bank im Vorzimmer. Seine Hoheit werde bald erscheinen, erklärte er und ließ sie allein.
Der Durchgang, der die Verbindung zwischen den Tuilerien und dem Louvre herstellte, war sehr belebt. Wiederholt bemerkte Angélique Gesichter, die ihr schon in Saint-Jean-de-Luz begegnet waren. Man begab sich zum Souper bei Mademoiselle. Man kam bei Madame Henriette zum Kartenspiel zusammen. Manche bedauerten, daß sie ins Schloß Vincennes zurückkehren mußten, das dem König bis zu seinem Einzug in Paris als Unterkunft zu dienen hatte, obwohl es so ungemütlich war.
Allmählich wurde es auf den Gängen dunkel. Lakaien erschienen mit Leuchtern, die sie auf die Konsolen zwischen den hohen Fenstern stellten.
»Madame«, sagte Margot unversehens, »wir müssen gehen. Es wird Nacht. Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, werden wir nicht heimfinden oder von irgendeinem Räuber ermordet werden.«
»Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich Monsieur gesprochen habe«, erklärte Angélique trotzig. »Und wenn ich die Nacht auf dieser Bank verbringen muß.«
Die Zofe schwieg. Doch nach einer Weile begann sie mit gedämpfter Stimme von neuem:
»Madame, ich fürchte, man hat es auf Euer Leben abgesehen!«
Angélique fuhr auf.
»Du bist verrückt. Wie kommst du auf solche Ideen?«
»Das ist nicht so abwegig. Man hat ja erst vor vier Tagen versucht, Euch umzubringen.«
»Wie meinst du das?«
»Im Wald von Rambouillet. Man hatte es nicht auf den König und die Königin abgesehen, Madame, sondern auf Euch. Und wäre der Wagen nicht ins Schwanken geraten, so hätte Euch der Schuß, den man aus nächster Nähe auf die Fensterscheibe abgab, ganz zweifellos in den Kopf getroffen.«
»Wie kommst du nur auf so unsinnige Gedanken! Die Diener, die auf einen üblen Streich aus waren, hätten jeden beliebigen Wagen angegriffen .«
»So! Wie kommt es dann, daß der, der auf Euch schoß, ausgerechnet Euer ehemaliger Haushofmeister Clément Tonnel war?«
Angélique sah sich in dem jetzt verlassenen Vorzimmer um, an dessen Wände die steilen Flammen der Wachskerzen regungslose Schatten warfen.
»Bist du dessen gewiß, was du da sagst?«
»Ich verbürge mich mit meinem Leben dafür. Ich habe ihn ganz deutlich erkannt, trotz des in die Stirn gezogenen Huts. Vermutlich hat man ihn ausgesucht, weil er Euch gut kennt und man die Gewißheit hatte, daß er sich nicht in der Person irren würde.« - »Wer ist das: >man<?« - »Wie soll ich das wissen?« fragte die Kammerfrau achselzuckend. »Aber ich habe noch eine weitere Vermutung: daß nämlich dieser Mann ein Spitzel war. Er hat mir nie Vertrauen eingeflößt. Erstens stammte er nicht aus unserer Gegend. Dann konnte er nicht lachen. Schließlich schien er immer auf irgend etwas zu lauern, und selbst bei der Arbeit schnüffelte er noch überall herum . Warum er Euch hat umbringen wollen, ist mir allerdings genau so unerklärlich wie die Tatsache, daß Euer Gatte sich im Gefängnis befindet, aber man müßte blind sein und taub und blöde obendrein, um nicht zu erkennen, daß Ihr Feinde habt, die Euren Untergang beschlossen haben.«
Angélique fröstelte und hüllte sich enger in ihren weiten Umhang aus brauner Seide.
»Ich weiß nicht, wer einen Grund dazu haben könnte. Und weshalb sollte man gerade mich umbringen wollen?«
Blitzartig erschien die Vision des Giftkästchens vor ihren Augen. In dieses Geheimnis hatte sie nur Joffrey eingeweiht. War es möglich, daß diese alte Geschichte immer noch spukte?
»Gehen wir, Madame«, wiederholte Margot in drängendem Ton.
In diesem Augenblick hallten Schritte in der Galerie. Angélique begann zu zittern. Jemand näherte sich. Sie erkannten den Chevalier de Lorraine, der einen Leuchter mit drei Kerzen trug. Die Flammen beleuchteten sein kantiges, ein wenig verfettetes Gesicht, dessen leutseliger Ausdruck kaum über die brutalen Züge hinwegtäuschte.
»Seine Königliche Hoheit bedauert unendlich«, sagte er mit einer Verbeugung. »Sie ist aufgehalten worden und kann zu der für heute abend mit Euch vereinbarten Verabredung nicht erscheinen. Seid Ihr mit einer Verschiebung auf morgen zur gleichen Stunde einverstanden?«
Angélique war grenzenlos enttäuscht. Gleichwohl stimmte sie der neuen Verabredung zu.
Der Chevalier de Lorraine sagte ihr, die Tore der Tuilerien seien geschlossen; er werde sie zum andern Ende der Großen Galerie geleiten. Wenn sie von dort aus einen kleinen Garten durchquerten, den sogenannten Garten der Infantin, würden sie mit wenigen Schritten den Pont-Neuf erreichen.
Der Chevalier schritt voraus und hielt seinen Leuchter in die Höhe. Seine hölzernen Absätze erzeugten auf den Fliesen des Flurs ein unheimlich hallendes Geräusch. Von Zeit zu Zeit begegnete man einer Wache, oder eine Tür öffnete sich, und ein la-chendes Paar erschien. An ihm vorbei konnte man einen Blick in einen festlich erleuchteten Salon werfen, in dem eine Gesellschaft beim Kartenspiel saß. Irgendwo hinter Wandteppichen spielten Violinen eine zierliche, sanfte Weise.