»Ja, schon, aber für seinen Zustand bin ich doch nicht verantwortlich«, protestierte ich.
»Macht nichts. Sie haben sich die Mühe gemacht, ihn nach Hause zu bringen und mich zu holen. Seien Sie so freundlich und kneifen Sie jetzt nicht. Ich halt’ es wirklich für nötig, daß jemand die ganze Nacht hierbleibt ... jemand, der die Kraft hat, notfalls mit ihm fertigzuwerden. Das ist keine Aufgabe für ältliche weibliche Verwandte, selbst wenn Sie um diese Tageszeit noch jemand von dieser Sorte finden könnten.«
Nachdem er es so dargestellt hatte, konnte ich nicht gut nein sagen. Wir führten Grant die Treppe hinauf. Sein Schlafzimmer war verschmutzt. Dreckige Laken und Dek-ken lagen zerknüllt auf dem ungemachten Bett, alles war verstaubt, und schmutzige Kleidungsstücke lagen auf dem Boden oder hingen an der Tür. Im ganzen Zimmer roch es nach Schweiß.
»Wir bringen ihn wohl besser woanders hin«, sagte ich, knipste Lampen an und öffnete alle anderen Türen auf dem kleinen Treppenabsatz, Eine Tür führte in ein Badezimmer, dessen Zustand jeder Beschreibung spottete. Eine zweite gab den Blick auf einen Wäscheschrank frei, in dem noch ein paar saubere Laken gestapelt waren, und die letzte schließlich führte in ein leeres Schlafzimmer mit rosageblümten Tapeten. Grant stand blinzelnd auf dem Treppenabsatz, während ich frische Bettwäsche holte und das Bett für ihn bezog. Einen sauberen Schlafanzug gab es nicht. Dr. Parnell zog Grant bis auf Unterhosen und Sok-ken aus und brachte ihn dazu, sich ins Bett zu legen. Dann ging er hinunter und kam mit einem Glas Wasser zurück. An seiner Miene konnte ich erkennen, wie es in der Küche aussah.
Er klappte seine Tasche auf, schüttelte zwei Pillen auf seine Handfläche und befahl Grant, sie zu schlucken, was er gehorsam tat. Er kam mir jetzt vor wie ein Schlafwandler. Er war nur noch eine leere Hülle. Es war unheimlich, machte es aber um so leichter, ihn ohne Widerstand zu Bett zu bringen.
Parnell schaute auf die Uhr. »Ich komme zu spät zur Sprechstunde«, sagte er, als Grant sich aufs Kissen legte und die Augen schloß. »Mit den Pillen müßte er eine Weile ruhig sein. Geben Sie ihm noch zwei, wenn er aufwacht.« Er gab mir ein kleines Fläschchen. »Sie wissen, wo Sie mich finden können, wenn Sie mich brauchen«, fügte er mit frohem Grinsen hinzu. »Ich wünsche gute Nacht.«
Ich verbrachte einen einsamen Abend und leistete mir als Abendmahlzeit einen halben Liter Milch, den ich an der Tür gefunden hatte. Sonst fand ich in der Küche nichts Eßbares. Es gab keine Bücher und kein Radiogerät, und um die Zeit totzuschlagen, bemühte ich mich, ein bißchen sauberzumachen, aber was dieses gräßliche Haus wirklich brauchte, waren ein luftiger Frühlingstag, literweise Des-infektionsmittel und eine Armee von hartnäckigen Putzfrauen.
Ich schlich mich mehrmals in das Schlafzimmer, um zu sehen, wie es Grant ging, aber er schlief friedlich bis Mitternacht. Dann schlug er die Augen auf, aber als ich zu ihm trat, schien er mich nicht zu erkennen. Er befand sich immer noch in einem Zustand der Lethargie und nahm gehorsam und wortlos die Pillen, als ich sie ihm anbot. Ich wartete, bis sich seine Augen wieder geschlossen hatten, dann schloß ich die Schlafzimmertür ab, ging nach unten und schlief endlich selber ein, auf einem zu kurzen Sofa, in eine Reisedecke gewickelt. Grant rührte sich die ganze Nacht nicht, und als ich um sechs Uhr früh zu ihm hinaufging, schlief er noch fest.
Dr. Parnell war anständig genug, zu früher Stunde zu kommen und mich abzulösen. Um halb acht erschien er mit einem Pfleger. Er brachte auch einen Korb voll Eier, Speck, Milch, Brot und Kaffee mit und zog aus seiner Arzttasche einen Elektrorasierapparat. »Moderner Komfort inbegriffen«, sagte er grinsend.
Ich kehrte also gewaschen, rasiert und gespeist auf den Rennplatz zurück. Wenn ich allerdings an das Wrack des Mannes dachte, das ich zurückgelassen hatte, war mir wenig angenehm zumute.
Kapitel 7
»Das Dumme ist, daß es im Augenblick zu wenig Jockeis gibt«, klagte James Axminster. Wir waren unterwegs nach Sandown und besprachen die Frage, wen er in der kommenden Woche einsetzen sollte, wo er am selben Tag zwei verschiedene Rennplätze zu beschicken hatte. »Manchmal hat man beinahe das Gefühl, daß alles verhext ist«, sagte er, den großen Wagen geschickt zwischen einer wackligen Radlerin und einem großen Möbelwagen hindurchsteuernd. »Art hat sich erschossen, Pip das Bein gebrochen, Grant einen Nervenzusammenbruch erlitten. Zwei oder drei andere Jockeis haben durch alltäglichere Unfälle ausscheiden müssen; und mindestens vier ganz brauchbare Burschen haben Ballertons albernen Ratschlag befolgt und sind in die Fabrik gegangen. Da wär’ noch Peter Cloony ... aber ich habe gehört, daß er sehr unzuverlässig ist und selten pünktlich kommt, Danny Hicks wettet zuviel, heißt es, und Ingersoll gibt sich nicht immer die größte Mühe, wie man mir erzählt .«
Er bremste, als eine Frau mit einem Kinderwagen vor uns unvorsichtig die Straße überquerte, und meinte: »Jedesmal, wenn ich einen brauchbaren Jockei gefunden zu haben glaube, höre ich etwas Nachteiliges über ihn. Bei Ihnen war es der Film, den man in der Fernsehsendung gezeigt hat. Gräßlich, was? Ich hab’ ihn mir angesehen und dachte, du lieber Himmel, was hab’ ich getan, daß ich den Kerl gebeten habe, für mich zu reiten, wie erkläre ich das nur den Besitzern.« Er grinste. »Ich war nahe daran, sie alle anzurufen und ihnen zu versichern, daß ich Sie nicht an ihre Pferde heranlasse. Zum Glück für Sie ist mir
eingefallen, wie Sie für mich geritten sind, und ich habe mir die Sendung bis zu Ende angesehen, dann war ich anderer Meinung. Ich kam sogar auf den Gedanken, daß ich mehr Glück als Verstand gehabt hatte, als ich Sie einsetzte. Ich habe bisher keinen Grund gehabt, meine Meinung zu ändern«, sagte er lächelnd und sah mich von der Seite her an. Ich lächelte auch. In den Wochen, seit sich Pip das Bein gebrochen hatte, waren wir näher miteinander bekannt geworden, und ich konnte ihn von Tag zu Tag besser leiden. Er war nicht nur einer der ersten in seinem Fach, sondern auch in jeder anderen Beziehung zuverlässig. Er hatte keine Launen; man brauchte nicht jedesmal Angst zu haben, daß er in schlechter Stimmung sein würde, weil er immer in der gleichen Gemütsverfassung war, weder übermütig noch gereizt, einfach vernünftig und aufnahmebereit. Er sagte ohne Umschweife, was er dachte, so daß man nie nach versteckten Anzüglichkeiten fahnden mußte. Andererseits war er in vieler Beziehung durchaus egoistisch. Wenn es nicht ausdrücklich um geschäftliche Dinge ging, kamen an erster, zweiter und dritter Stelle seine Bequemlichkeit und sein Wohlbefinden; einem anderen erwies er nur dann eine Gefälligkeit, wenn sie nichts kostete. Selbst das war für seine Stallburschen oft günstig, weil er ihnen lieber aus der eigenen Tasche ein großzügiges Reisegeld zahlte, statt einen Umweg von zehn Kilometern zu machen und sie vor ihrer Wohnung abzusetzen.
Er schien von Anfang an mit meiner Gesellschaft ebenso zufrieden zu sein wie ich mit der seinen und hatte mich nach kurzer Zeit gebeten, das >Sir< wegzulassen und ihn >James< zu nennen.
In derselben Woche noch, als er uns von Birmingham nach Hause fuhr, kamen wir an grellen Plakaten vorbei, die ein dort stattfindendes Konzert ankündigten.
»Dirigent Sir Trelawny Finn«, las er laut vor, als ihm die riesigen Lettern ins Auge stachen. »Das ist wohl kein Verwandter von Ihnen«, meinte er scherzend.
»Doch, um ehrlich zu sein, ja, das ist mein Onkel«, sagte ich. Es wurde totenstill. Dann sagte er: »Und Caspar Finn?«
»Mein Vater.«
Eine Pause.
»Und weiter?«
»Dame Olivia Cottin ist meine Mutter«, sagte ich leichthin.
»Du guter Gott«, entfuhr es ihm.
Ich grinste.
»Sie halten das aber sehr geheim«, meinte er.