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Weihnachten kam, und in der Woche davor, als keine Rennen stattfanden, blieb ich ein paar Tage in Kensington. Meine Eltern begrüßten mich mit der üblichen liebenswürdigen Geistesabwesenheit und überließen mich meinem Schicksal. Sie waren beide überbeschäftigt, und meine Mutter übte außerdem jeden Vormittag am Flügel ein neues Konzert, das am ersten Januar zum erstenmal gespielt werden sollte. Sie begann jeden Tag pünktlich um sieben und spielte - mit kurzen Unterbrechungen zum Kaffeetrinken und Nachdenken - bis halb eins.

Ich konnte sie mir genau vorstellen, in der Arbeitskleidung, Skihose und Wollpullover, aufrecht auf ihrem Hok-ker, den Kopf vorgebeugt, wie um aus dem Flügel mehr herauszuhören als die Noten.

Meine Mutter mochte in meiner Kindheit keine tröstende Zuflucht gewesen sein, noch gab sie sich jetzt allzuviel mit mir ab, seit ich erwachsen war, aber durch ihr Beispiel hatte sie mir viel gegeben. Zähe Durchsetzungskraft, die Weigerung, sich mit Einfachem zufrieden zu geben, wenn sich Höheres allein durch Arbeit erreichen ließ. Ich war mit jungen Jahren selbständig geworden, und weil ich die Mühe hinter dem Glanz ihres öffentlichen Auftretens sah, erwartete ich nicht, daß mir das Leben ohne Anstrengung auf meiner Seite alles in den Schoß warf. Welche Mutter konnte ihren Sohn mehr lehren?

Joanna hatte wenig Zeit, weil sie mehrmals in Aufführungen des Weihnachtsoratoriums auftreten mußte. Es gelang mir nur, sie zu einem Spaziergang im Hyde Park zu bewegen, von meinem Standpunkt aus kein Erfolg, weil Bach mich mühelos auf den zweiten Platz verwies, was Joannas Aufmerksamkeit anging. Vom Albert-Tor bis zur Serpentine und von der Serpentine bis zur Bayswater Road summte sie unaufhörlich Melodien aus dem Oratorium vor sich hin. Dort stiegen wir in ein Taxi, und ich lud sie zum Weihnachtsessen im Savoy ein, wo sie nur mit größter Mühe vom Singen zurückzuhalten war, da ihr die Akustik in der Eingangshalle zusagte. Ich vermochte nicht zu entscheiden, ob sie mich absichtlich ärgerte, und wenn ja, warum?

Sie war jedenfalls weit weniger gleichgültig als sonst und zeigte in ihrem Verhalten eine Sprödigkeit, die ich weder mochte noch verstand, bis mir während des Essens plötzlich einfiel, daß sie vielleicht unglücklich war. So etwas hatte ich bei ihr noch nie erlebt, weshalb ich mir nicht sicher sein konnte. Ich wartete bis zum Kaffee und sagte dann gleichmütig: »Was ist los, Joanna?«

Sie sah mich an, schaute sich im Lokal um, sah mich wieder an, dann ihre Tasse.

Schließlich sagte sie: »Brian will mich heiraten.«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war ein schwerer Schlag für mich. Ich ertappte mich dabei, daß ich in meine Tasse starrte. Schwarz und bitter, sehr passend, dachte ich.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »So, wie es bisher gewesen ist, war es mir recht. Jetzt bin ich ganz durcheinander. Brian möchte so einfach nicht weitermachen. Er geht sehr viel in die Kirche und kann unser Verhältnis mit seiner Religion nicht vereinbaren. Ich habe es nie für besonders sündhaft gehalten, ganz einfach für erfreulich, fruchtbar und ... tröstlich. Er spricht davon, daß er sich ein Haus kaufen und sich niederlassen will, und er sieht mich als die ideale Hausfrau, beim Putzen, Nähen, Kochen und so weiter. Ich gehöre nicht zu diesem Typ. Der Gedanke allein erschreckt mich. Wenn ich ihn heirate, weiß ich, daß ich mich elend fühlen werde ...« Ihre Stimme wurde immer leiser.

»Und wenn du ihn nicht heiratest?« fragte ich.

»Dann ist mir auch elend, weil er sich weigert, so weiterzumachen wie bisher. Wir fühlen uns miteinander nicht mehr wohl. Wir streiten uns fast. Er meint, es ist unverantwortlich und kindisch, in meinem Alter nicht heiraten zu wollen, und ich sage, daß ich ihn gerne heiraten will, wenn wir so weiterleben wie bisher, daß er kommt und geht, wann es ihm paßt, daß ich arbeiten und gehen und kommen kann, wie es mir gefällt. Aber das will er nicht. Er möchte solid und konventionell sein und ... und fad.«

Das letzte Wort stieß sie explosiv, beinahe verächtlich hervor. Sie rührte angestrengt ihren Kaffee um. Zucker hatte sie noch keinen hineingetan. Ich beobachtete ihre nervösen Bewegungen, die langen, kräftigen Finger mit den lackierten Fingernägeln, die den Löffel zu fest umklammert hielten.

»Wie sehr liebst du ihn?« fragte ich gepreßt.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie unglücklich. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was Liebe ist.« Sie sah mich an. »Wenn sie bedeutet, daß ich mein Leben damit zubringen will, ihm Bequemlichkeiten zu verschaffen, dann lieb’ ich ihn nicht. Wenn es darum geht, was zwischen Mann und Frau üblich ist, dann liebe ich ihn.«

Sie sah das Zucken in meinem Gesicht und sagte plötzlich: »Ach verdammt, Rob ... es tut mir leid. Es ist so lange her, seit du etwas gesagt hast ... ich hätte nicht gedacht, daß du noch .«

»Schon gut«, sagte ich. »Da läßt sich nichts machen.«

»Was ... was soll ich deiner Meinung nach tun?« fragte sie nach einer längeren Pause, immer noch mit dem Kaffeelöffel spielend.

»Es ist doch ganz klar«, sagte ich entschieden, »daß du Brian nicht heiraten darfst, wenn du das Leben nicht ertragen kannst, das ihm vorschwebt. Es wäre für euch beide nicht gut.«

»So?« sagte sie leise.

Aber ich schüttelte den Kopf. Mit allem anderen mußte sie allein fertig werden. Ich konnte ihr keinen neutralen Rat geben, und das muß sie auch gewußt haben.

Sie ging dann bald zu einer Probe, ich bezahlte und marschierte auf die festlich geschmückte Straße hinaus. Ich kaufte unterwegs ein paar Geschenke für meine Familie und wanderte langsam zur Wohnung zurück. Die Art von Ehe, die Joanna Brian angeboten hatte und die er nicht wollte, war genau das, was ich mir am meisten wünschte. Warum ging es im Leben nur so unfair zu, dachte ich bedrückt.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag gewann Template das Königsrennen, eines der zehn wichtigsten Rennen des Jahres. Es machte ihn endgültig zu einem Star und schadete auch mir nicht.

Das Rennen war im Fernsehen übertragen worden, und Maurice Kemp-Lore interviewte mich nachher als Siegerjockei, wie es seine Gewohnheit war. Am Ende des kurzen Gesprächs bat er mich, Pip guten Tag zu sagen, der, wie er seinen Zuschauern erklärte, zu Hause die Sendung verfolgte. Ich hatte Pip erst vor acht oder vierzehn Tagen gesehen und mich über Renntaktik mit ihm unterhalten, aber ich begrüßte ihn trotzdem und sagte, hoffentlich heile der Bruch gut. Kemp-Lore fügte lächelnd hinzu: »Wir alle wünschen Ihnen gute Besserung, Pip«, und das Interview war zu Ende. Am folgenden Tag gab es in der Sportpresse lobende Erwähnungen des Rennens, und eine Anzahl von Trainern, für die ich noch nie geritten war, bot mir Pferde an. Endlich hatte ich das Gefühl, ohne Vorbehalt als Jok-kei anerkannt zu sein, nicht ausschließlich als Ersatzmann für Pip. Es erschien sogar möglich, daß ich nach Pips Rückkehr nicht der Vergessenheit anheimfallen würde, weil zwei von den neuen Trainern erklärten, sie würden mich so oft für ihre Pferde nehmen, wie ich Zeit hatte.

Es gab natürlich auch in dieser Zeit Stürze, weil ich trotz allem dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit nicht entkommen konnte, aber abgesehen von ein paar Prellungen ging alles glimpflich ab.

Der schlimmste Sturz vom Standpunkt der Zuschauer aus passierte eines Samstagnachmittags im Januar, als mein Pferd vor der Haupttribüne stolperte und mich abwarf. Ich fiel direkt auf den Kopf. Als mich die Sanitäter auf einer Bahre in den Krankenwagen schoben, kam ich zu mir und wußte ein paar Augenblicke lang nicht, wo ich war.

James’ Gesicht, das ich vor mir sah, als man mich in den Sanitätsraum trug, brachte mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück, und ich fragte ihn, ob sein Pferd unverletzt sei.

»Ja«, sagte er. »Und Sie?«

»Nichts gebrochen«, versicherte ich ihm, nachdem ich während der kurzen Fahrt im Krankenwagen meine Glieder abgetastet hatte.

»Er ist über Sie hinweggerollt«, sagte er.

»Wundert mich nicht.« Ich grinste ihn an. »Ich komme mir auch ein bißchen zerquetscht vor.«