Nach langer Zeit stand ich auf und stellte die Flasche in den Schrank zurück. Ich hatte schon seit über sechsundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Trotz der betrüblichen Erlebnisse begann sich mein Magen zu melden. Bei einer zweiten Inspektion förderte ich in der Küche nur Gurken, glasierte Maronen und Erdbeeren zutage, weshalb ich das Haus verließ und durch die Straßen lief, bis ich ein anständiges Lokal fand, wo mich niemand kannte. Ich wollte meine Ruhe haben.
Ich bestellte Schinkenbrote und ein Glas Bier, aber als das Essen kam, schmeckte das dicke, frische Weißbrot wie Stroh, und meine Kehle wehrte sich gegen alle Schluckversuche. So kann’s nicht weitergehen, dachte ich. Ich muß essen. Wenn ich mich nicht besaufen kann, wenn ich Joanna nicht haben kann und wenn ich ... wenn ich kein Jockei mehr sein kann . dann möchte ich wenigstens essen, so viel ich will, ohne mir Sorgen über mein Gewicht machen zu müssen . Aber nach zehn Minuten hatte ich erst zwei Bissen hinuntergebracht, und damit war endgültig Schluß.
Die Tatsache, daß Freitag war, hatte mir den ganzen Abend lang nichts Besonderes bedeutet, und ich merkte auch nicht auf, als es neun Uhr wurde. Aber als ich die Brote wegschob und das Bier angewidert anstarrte, stellte jemand das Fernsehgerät auf der Theke lauter, und die ersten Takte der Erkennungsmelodie von Maurice Kemp-Lores Sendung übertönten plötzlich das Gläserklirren und Stimmengewirr. Eine große Gruppe von Männern, die sich vor dem Fernsehgerät niedergelassen hatte, zischte den anderen Gästen zu, still zu sein, und bis Maurice Kemp-Lores Gesicht auf dem Bildschirm erschien, war es ziemlich ruhig geworden. Mein kleiner Tisch war der am weitesten von der Tür entfernte, so daß ich eigentlich hauptsächlich deswegen blieb, weil ich mich nicht zwischen den Leuten hindurchzwängen wollte.
»Guten Abend«, sagte Maurice mit seinem vertrauten Lächeln.
»Heute abend sprechen wir über Handikaps, und ich möchte Ihnen zwei Fachleute vorstellen, die Gewichte und Maße von verschiednen Standpunkten aus betrachten. Der erste ist Mr. Charles Jenkinson, seit mehreren Jahren amtlicher Handikaper.«
Mr. Jenkinsons verlegenes Gesicht tauchte kurz auf dem Bildschirm auf. »Und der andere ist der weithin bekannte Trainer Corin Kellar.«
Corins hageres Gesicht strahlte vor Befriedigung. Das wird er uns die nächsten fünf Monate unter die Nase reiben, dachte ich, dann fiel mir plötzlich ein, daß ich jedenfalls nicht dabeisein würde, wenn er davon erzählte.
»Mr. Jenkinson«, plauderte Maurice, »wird Ihnen erklären, wie er ein Handikap errechnet. Und Mr. Kellar sagt Ihnen, wie er es anstellt, daß seine Pferde durch die festgesetzten Gewichte nicht alle Chancen verlieren. Die Auseinandersetzung zwischen Handikapern und Trainern ist, obwohl sie mit gentlemanhafter und klagloser Zurückhaltung geführt wird, sehr hart, und vielleicht bekommen Sie heute abend eine Andeutung davon zu spüren.« Er lächelte liebenswürdig. »Der Gipfel des Erfolges für einen Handi-kaper wäre, daß alle bei einem Rennen gemeldeten Pferde gleichzeitig durchs Ziel gehen - im vielfachen Bodenrennen -, weil es ihm darauf ankommt, jedem Pferd genau dieselbe Chance zu geben. Das kommt selbstverständlich vor, aber selbst Handikaper träumen manchmal.« Er grinste seine Gäste voll Herzlichkeit an, und als Mr. Jenkinson auf dem Bildschirm erschien, konnte man beinahe sehen, wie er selbstsicherer wurde, als er von seiner Arbeit zu erzählen begann.
Ich hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu, weil ich im übrigen mit meinem eigenen Elend beschäftigt war, und
Corin war schon seit einiger Zeit zu Wort gekommen, bevor ich auf ihn achtete. Er war aus gutem Grund nicht ganz offen, weil ihn die blanke Wahrheit seine Lizenz gekostet hätte. In der Praxis hatte er keinerlei Bedenken, seinen Jockeis die Anweisung zu erteilen, daß sie hinter dem Feld bleiben sollten, aber in der Theorie stand er, wie ich sah, durchaus auf der Seite des Rechts.
»Die Pferde aus meinem Stall laufen grundsätzlich auf Sieg«, log er ohne Bedenken.
»Aber Sie bestehen doch sicherlich nicht darauf, daß sie auch am Ende noch hart hergenommen werden sollen, obwohl sie keine Chance mehr haben?« meinte Maurice verbindlich.
»So hart wie möglich, ja«, bestätigte Corin. »Ich kann es nicht vertragen, wenn Jockeis zu früh nachlas sen, selbst wenn sie schon geschlagen sind. Ich habe erst vor kurzem einen Jockei entlassen, weil er beim Finish nicht alles gegeben hat. Er hätte dritter werden können, wenn er das Pferd angetrieben hätte ...« Seine Stimme tönte weiter, heuchlerisch und klagend, und ich dachte an Tick-Tock, den man gerügt hatte, weil er sich zu gewissenhaft an seine Anweisungen gehalten hatte. Ich dachte an Art, den man beschimpft, angenörgelt und in den Tod getrieben hatte, und meine Abneigung gegenüber Corin Kellar steigerte sich zu Haß. Maurice brachte ihn aufs Thema zurück und rang ihm das widerwillige Eingeständnis ab, daß es im Hinblick auf die Gewichtsbelastung, die in Zukunft vorgeschrieben sein würde, für ein Pferd manchmal besser war, mit einer Länge Vorsprung zu gewinnen, als mit zehn. Maurice hätte besser daran getan, irgendeinen anderen Fachmann einzuladen, oder vielleicht kannte er Corin nicht gut genug, um zu wissen, daß er vor der Öffentlichkeit heuchlerisch bestritt, was er privat gesagt hatte. Jeder Jockei, der Kellars Pferde geritten hatte, wußte Bescheid.
»Man ist seinem Jockei immer ausgeliefert«, jammerte Corin gerade.
»Nur zu«, sagte Maurice anfeuernd und beugte sich vor. Eine Lichtquelle irgendwo im Studio ließ seine Augen aufglänzen.
»Man kann sich wochenlang mit einem Pferd abplagen«, fuhr Corin fort, »und dann kommt ein Jockei daher und vermasselt alles durch einen einzigen dummen Fehler.«
»Für das Handikap ist das allerdings nicht schlecht«, unterbrach ihn Maurice lachend. Die Zuhörer im Lokal lachten auch.
»Na ja«, meinte Corin verständnislos.
»Wenn Sie die Sache so sehen«, fuhr Maurice fort, »gibt es immer einen Ausgleich dafür, daß ein Jockei dem Pferd nicht alles abverlangt. Was immer auch der Grund dafür sein mag. Harmlos, also ein Fehler, oder ernster, wenn er im entscheidenden Augenblick nicht seine ganze Entschlußkraft einsetzt.«
»Sie meinen, wenn er keinen Mut hat?« sagte Corin. »Ich würde sagen, daß ein Handikaper darüber genauso Bescheid weiß wie jeder andere und es auch berücksichtigen würde. Es gibt zur Zeit ein praktisches Beispiel .« Er zögerte, aber Maurice fuhr nicht dazwischen, so daß er etwas kühler geworden fortfuhr: »Ein Fall, bei dem ein gewisser Jockei bei jedem Rennen hinter dem Feld bleibt. Er hat Angst vor einem Sturz, verstehen Sie? Mir können Sie nicht erzählen, daß ein Handikaper diese Pferde nicht für so gut hält, wie sie eigentlich sind. An ihnen liegt es nicht. Es ist einfach der Reiter, der immer weiter abrutscht.«
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoß und zu pulsieren begann. Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und biß in die Fingerknöchel. Sie Stimmen sprachen unerbittlich weiter.
»Was haben Sie dazu zu sagen, Jenkinson?« fragte Maurice.
Und der Handikaper murmelte mit verlegenem Gesicht: »Selbstverständlich ... äh ... unter diesen Umständen würde man solche ... äh ... gelegentlichen Ergebnisse unbeachtet lassen.«
»Gelegentlich!« sagte Corin. »Wenn so etwas nahezu dreißigmal hintereinander passiert, kann man nicht mehr von gelegentlich sprechen. Wollen Sie das alles übersehen?«
»Ich kann das nicht beantworten«, protestierte Jenkin-son.
»Was tun Sie gewöhnlich in solchen Fällen?« fragte Maurice.
»Ich ... das heißt ... normalerweise sind sie nicht so auffällig. Ich würde gegebenenfalls mit ... äh ... anderen Leuten sprechen müssen, bevor ich eine Entscheidung treffe, aber darüber kann ich hier wirklich nichts sagen.«
»Wo wäre es passender?« meinte Maurice. »Wir alle wissen, daß der arme Kerl vor drei Wochen gestürzt ist und seither ... äh ... nicht besonders viel geleistet hat. Sie müßten das doch sicher berücksichtigen, wenn Sie das Handikap errechnen?«