Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Eine so einfache Erklärung für meinen Trieb zum Rennsport wäre mir nie eingefallen.
»Das ... das hab’ ich nicht gemeint«, sagte ich hilflos. »Aber wenn ich es mir recht überlege, stimmt es.« Ich machte eine Pause.
»Was ich eigentlich fragen wollte: Könnte ich, als ich größer wurde, eine körperliche Untüchtigkeit entwickelt haben, um mein Versagen nicht deutlich werden zu lassen, eine Lähmung beispielsweise, so daß es mir einfach nicht möglich gewesen wäre, Geige oder Klavier oder irgendein anderes Instrument zu lernen? Einen scheinbar ehrenhaften Ausweg?«
Er sah mich eine Weile ernst an.
»Wenn Sie zu einem gewissen Typ gehören, ist das möglich. Aber nicht bei Ihnen. Hören Sie auf, um den Brei herumzureden, und fragen Sie, was Sie wissen wollen. Ich kenne mich mit solchen fiktiven Geschichten aus ... ich habe jeden Tag damit zu tun ... aber wenn Sie eine gescheite Antwort hören wollten, müssen Sie die entscheidende Frage stellen.«
»Es gibt zwei«, sagte ich. Ich zögerte immer noch. Von seiner Antwort hing so viel ab, vielleicht mein ganzes Leben. Er wartete geduldig.
Ich sagte schließlich: »Könnte ein Junge, in dessen Familie es nur großartige Reiter gab, Asthma bekommen, um die Tatsache zu verbergen, daß er sich vor Pferden fürchtete?« Mein Mund war trocken.
Er antwortete nicht gleich. Er sagte: »Und die andere Frage?«
»Könnte dieser Junge, zum Mann geworden, Hindernisjockeis gegenüber einen solchen Haß empfinden, daß er sich bemüht, ihre Karriere zu vernichten? Obwohl er, wie Sie gesagt haben, etwas anderes gefunden hat, wo er sehr tüchtig ist?«
»Ich nehme an, daß dieser Mann eine solche Schwester hat, wie Sie vorhin erwähnen?«
»Ja«, sagte ich. »Sie ist die beste Jagdreiterin der letzten zwanzig Jahre.«
Er lehnte sich zurück. »Die ganze Geschichte ist für Sie offenbar so wichtig, Robert, daß ich Ihnen keine Antwort geben kann, ohne mehr darüber zu wissen. Ich möchte nicht einfach ja sagen und nachher feststellen müssen, daß Sie andere Leute in die größten Schwierigkeiten gebracht haben. Sie müssen mir sagen, warum Sie diese Fragen stellen.«
»Aber Ihr Golf«, sagte ich.
»Das hat Zeit«, sagte er ruhig. »Reden Sie.«
Ich fing an. Ich erzählte ihm, was mit Art geschehen war, mit Grant, Peter Cloony, Tick-Tock und mit mir.
Ich erzählte ihm von Maurice Kemp-Lore. »Er stammt aus einer Familie, in der Reiten geradezu eine Lebensanschauung war, und er hat auch die richtige Figur für den Rennsport. Aber beim Umgang mit Pferden bekommt er Asthma, und deshalb ist er nichtaktiv, wie jeder weiß. Also ... ist das ein guter Grund? Natürlich gibt es Asthmatiker, die reiten - Asthma hält Leute nicht auf, die den Rennsport über alles lieben -, aber kein Mensch würde jemand verachten, der es nicht tut.«
Ich schwieg ein paar Augenblicke, aber als er nichts sagte, fuhr ich fort: »Man fühlt sich unwillkürlich zu ihm hingezogen. Sie können sich nicht vorstellen, wie charmant er ist, wenn Sie ihn nicht kennen. Man sieht die Leute aufwachen und strahlen, wenn er mit ihnen spricht. Er hat vom National Hunt Committee bis zum kleinsten Stallburschen nur Verehrer ... und ich glaube, daß er seinen Einfluß dazu benützt, die Jockeis schlechtzumachen.«
»Weiter«, sagte Claudius, ohne sich dazu zu äußern.
»Die Männer, die besonders stark seinem Einfluß zu unterliegen scheinen, sind Corin Kellar, ein Trainer, und John Ballerton vom Hunt Committee. Keiner von beiden hat je ein gutes Wort für die Jockeis übrig. Ich glaube, daß Kemp-Lore sie sich als Freunde ausgesucht hat, weil sie gemein genug sind, alles unter die Leute zu bringen, was er ihnen einflößt. Ich glaube, daß alle gefährlichen Gerüchte vom Kemp-Lore stammen, und daß sogar die Substanz hinter den Gerüchten vorwiegend auf ihn zurückzuführen ist. Warum ist er nicht zufrieden mit seinem Erfolg? Die Jockeis, die er schädigt, mögen ihn und freuen sich, wenn er mit ihnen spricht. Warum will er sie fertigmachen?«
»Wenn das ein hypothetischer Fall wäre«, sagte er, »würde ich Ihnen sagen, daß ein solcher Mann seinen Vater - und seine Schwester - zugleich hassen und beneiden und diese Gefühle von früher Kindheit an gehabt haben kann. Aber weil er weiß, daß sie schlecht sind, unterdrückt er sie, und die Aggression wird unglücklicherweise auf Menschen mit denselben Fähigkeiten und Talenten umgelenkt, die er an seinem Vater haßt. Solchen Leuten kann man helfen. Man kann sie verstehen, behandeln und ihnen verzeihen.«
»Ich kann ihm nicht verzeihen«, sagte ich. »Und ich werde ihm das Handwerk legen.«
Er sah mich lange Zeit an. »Sie müssen vorher alles genau prüfen«, sagte er. »Bis jetzt stützen Sie sich nur auf Vermutungen. Da ich keine Gelegenheit gehabt habe, mit ihm zu sprechen, hören Sie von mir auch nicht mehr als das Eingeständnis, daß Ihr Verdacht Kemp-Lore gegenüber möglicherweise berechtigt ist. Nicht einmal wahrscheinlich. Er ist ein in der Öffentlichkeit bekannter Mann mit gutem Ruf. Sie erheben da eine sehr folgenschwere Anklage. Sie brauchen unwiderlegbare Tatsachen. Bis Sie die haben, besteht immer noch die Chance, daß Sie, was Ihnen zugestoßen ist, als bösartige Einflüsse von außen interpretieren, um Ihr inneres Versagen zu verdecken. Seelisches Asthma, sozusagen.«
»Gibt es bei euch eigentlich nie einen einfachen Standpunkt?« meinte ich seufzend.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts ist einfach.«
»Ich besorge mir, was ich brauche. Ab heute«, sagte ich. Ich stand auf. »Vielen Dank, daß Sie so geduldig waren. Und das mit Ihrem Golf tut mir wirklich leid.«
»Ich bin gar nicht einmal so spät dran«, versicherte er mir, stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Als er mir zum Abschied die Hand gab, sagte er: »Seien Sie vorsichtig, Robert. Wenn Sie recht haben, und es ist durchaus möglich, müssen Sie Kemp-Lore mit Nachsicht behandeln. Überreden Sie ihn, sich behandeln zu lassen. Setzen Sie ihm nicht zu hart zu. Es könnte von Ihnen abhängen, ob er sich wieder findet.«
»Ich kann mir Ihren Standpunkt nicht zu eigen machen«, sagte ich tonlos. »Ich halte Kemp-Lore nicht für krank, sondern für bösartig.«
»Wo die Krankheit aufhört und das Verbrechen beginnt .«
Er zuckte die Achseln. »Darüber streitet man sich seit Jahrhunderten, und nicht zwei Leute sind einer Meinung. Aber Vorsicht, Vorsicht!« Er wandte sich zum Gehen. »Grüßen Sie mir Ihre Eltern.« Er lächelte und schloß die Tür.
Nachdem ich mich in einem Friseurladen hatte rasieren lassen und in einem Lokal nebenan eine dreifache Portion Rührei mit Schinken verdrückt hatte, beschäftigte ich mich mit dem Problem, woher ich die unwiderlegbaren Tatsachen beschaffen sollte. Bei genauerem Hinsehen schien es nur sehr wenige zu geben, und bei meinen Nachforschungen würde ich gegen die Barriere aus Mitleid und Verachtung stoßen, die meine letzten Leistungen errichtet hatten. Scheußliche Medizin, aber wenn ich auf einem Heilmittel bestand, mußte ich sie einnehmen. Ich ging zum Telefon und läutete Tick-Tock an.
»Reitest du heute nachmittag?« fragte ich.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte er. »Keine gemeinen Fragen so früh am Tag. Mit einem Wort - nein.« Er machte eine Pause.
»Und du?«
Unschuldig, zu unschuldig.
»Du bist ein Schuft«, sagte ich.
»Das muß schon mal jemand zu mir gesagt haben.«
»Ich brauche den Wagen«, sagte ich.
»Den kriegst du nicht, wenn du an einen Baum rasen willst.«
»Bestimmt nicht«, versicherte ich.
»Na, das freut mich. Aber wenn du dich doch anders entschließen solltest, dann sag mir Bescheid. Ich mach’ mit.« Seine Stimme klang sorgenlos und spaßend; die verzweifelte Wahrheit hinter den Worten brauchte nicht ausgesprochen zu werden.
»Ich möchte ein paar Rennställe aufsuchen«, erzählte ich ihm.