»Ja«, sagte ich.
»Na, dann geh wieder ins Bett und ruf mich morgen früh an«, sagte sie. »Ich hab’ schon geschlafen«, meinte sie. »Weißt du nicht, wie spät es ist?«
Ich hörte sie gähnen. »Nein«, rief ich.
»Na, es ist ... äh ... zwanzig vor eins. Gute Nacht.«
»Joanna, nicht auflegen«, sagte ich hastig. »Ich brauche deine Hilfe. Wirklich. Bitte nicht auflegen.«
»Was ist denn los?« Sie gähnte wieder.
»Ich ... ich ... Joanna, komm und hilf mir. Bitte.«
Es blieb kurze Zeit still, und ihre Stimme klang plötzlich ganz wach. »So hast du noch nie zu mir >bitte< gesagt.« »Kommst du?« - »Wohin?«
»Ich weiß es nicht genau«, sagte ich verzweifelt. »Ich bin in einer Telefonzelle an einer Landstraße irgendwo draußen. Die Telefonvermittlung ist Hampden Row.« Ich buchstabierte es.
»Ich glaube nicht, daß es sehr weit von London entfernt ist. Wahrscheinlich im Westen.«
»Kannst du nicht von selbst zurückkommen?« fragte sie.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe kein Geld und bin tropfnaß.«
»Oh.« Es blieb kurze Zeit still. »Also gut. Ich stelle fest, wo du bist, und komme in einem Taxi. Noch etwas?«
»Bring einen Pullover mit«, sagte ich. »Ich friere. Und trockene Socken, wenn du sie hast. Und Handschuhe. Vergiß die Handschuhe nicht. Und eine Schere.«
»Pullover, Socken, Handschuhe, Schere. Okay. Du mußt warten, bis ich mich angezogen habe, aber ich komme, so schnell es geht. Bleib bei der Zelle.«
»Ja«, sagte ich.
»Ich beeil’ mich. Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen ...« Ich hängte ungeschickt ein. So schnell sie auch sein mochte, vor einer Stunde konnte sie nicht hier sein. Was war schon eine Stunde, nach so vielen? Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß es schon so spät war. Der Abend war mir zwar wie eine Ewigkeit erschienen, aber ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Und KempLore war nicht zurückgekommen. Seine Sendung war schon seit Stunden vorbei, und er war nicht zurückgekommen. Der verdammte Dreckskerl, dachte ich.
Ich setzte mich auf den Boden der Zelle und lehnte mich an die Wand neben dem Telefonapparat. Bewegung und eiskalter Wind draußen, Untätigkeit und Geborgenheit hier drinnen; das eine war so schlecht wie das andere. Aber ich war zu müde, um herumzulaufen, wenn es nicht sein mußte, also fiel mir die Wahl leicht.
Ich hob die Hände vors Gesicht und biß der Reihe nach in meine Finger. Sie waren eiskalt, von gelblich-weißer Farbe und völlig gefühllos. Sie ließen sich biegen und strecken, aber nur langsam und schwach, das war alles. Ich machte mich ernsthaft an die Arbeit, rieb sie an den Beinen entlang, schlug sie gegen die Knie, zwang sie, sich zu öffnen und zu schließen, aber nichts schien zu helfen. Ich machte weiter, aus Angst, daß es schlimmer werden könnte, wenn ich mich nicht anstrengte, und bezahlte mit schmerzhaftem Knarren meiner Schultern. Ich hatte sehr viel Stoff zum Nachdenken. Das Heftpflaster, zum Beispiel. Warum hatte er es verwendet? Der Streifen über dem Mund sollte verhindern, daß ich um Hilfe schrie, aber als ich ihn endlich abgerissen und geschrien hatte, war niemand in der Nähe gewesen, der mich hören konnte.
Der Streifen auf den Augen sollte mich nicht sehen lassen, wohin die Reise ging, aber was spielte es für eine Rolle, wenn ich einen leeren Hof und eine leere Sattelkammer sah? Was wäre anders gewesen, dachte ich, wenn ich in der Lage gewesen wäre, zu sprechen und zu sehen?
Zu sehen ... ich hätte Kemp-Lores Gesicht sehen können, während er sich bemühte, mich zu erledigen. Ich hätte Kemp-Lore sehen können ... das war’s! Ihn selbst hatte ich nicht sehen sollen.
Wenn das so war, hatte er mich vielleicht am Sprechen hindern wollen, um nicht zu einer Antwort gezwungen zu sein. Er hatte nur einmal den Mund aufgemacht und mit leiser, nicht wiederzuerkennender Stimme gesprochen. Ich war überzeugt davon, daß er vorgehabt hatte, mich seine Stimme nicht hören und erkennen zu lassen.
Dann mußte er geglaubt haben, ich wüßte nicht, wer mich entführt hatte, wüßte nicht, wer er war. Er mußte es immer noch glauben. Und das bedeutete, daß seiner Meinung nach James ihm den Zucker für Turniptop unabsichtlich aus der Hand geschlagen hatte, daß er nichts von meinem Besuch bei den Stallungen erfahren hatte und daß er nicht wußte, daß ich mich nach dem Jaguar erkundigt hatte. Das verlieh mir einen kleinen Vorteil, dachte ich. Wenn er irgendwo Spuren hinterlassen hatte, würde er es nicht für nötig halten, sie zu verwischen. Wenn er nicht wußte, daß er selbst der Katastrophe zusteuerte, würde er sich nicht allzu sehr vorsehen.
Während ich meine blutleeren Hände anstarrte und mir darüber klar war, daß ich zu allem anderen noch ihre Rückkehr zum Leben ertragen mußte, begriff ich, daß mein Gewissen keine zivilisierten Hemmungen mehr anerkannte. Aufzubauen, was er zerstört hatte, genügte nicht. Er selbst hatte mir die Unerbittlichkeit eingehämmert, die mir gefehlt hatte, um mich und alle anderen gründlich zu rächen, es physisch, endgültig und ohne Bedenken zu tun.
Sie kam endlich. Ich hörte einen Wagen vorfahren und eine Tür zufallen, dann ihre schnellen Schritte auf der Straße. Die Tür der Telefonzelle öffnete sich, eiskalter Wind strömte herein. Und da war sie, in Hosen, Pelzstiefeln und einer warmen blauen Windjacke. Das Licht fiel auf ihr dunkles Haar.
Ich war unendlich froh, sie zu sehen. Ich sah zu ihr auf und gab mir Mühe zu lächeln, aber es gelang mir nicht sehr gut. Ich zitterte zu stark.
Sie kniete nieder und sah mich genauer an. Ihr Gesicht erstarrte. »Deine Hände«, flüsterte sie.
»Ja. Hast du die Schere mitgebracht?«
Wortlos öffnete sie ihre Handtasche, nahm eine große Schere heraus und befreite mich von den Fesseln. Sie ging behutsam zu Werke. Sie nahm den Zaumzeughaken zwischen meinen Knien heraus und legte ihn auf den Boden, dann löste sie vorsichtig die Schnüre von meinen Handgelenken. Sie waren blutbefleckt, und unter ihnen zeigte sich die Haut dunkelrot und abgeschürft.
»Da unten auch noch«, ich wies mit dem Kinn auf meine Füße. Sie durchschnitt die durchtrennten Fesseln an meinen Knöcheln, und ich sah, daß sie den Rand meines Hosenbeins zwischen den Fingern rieb. Die Luft war zu kalt gewesen, um den Stoff trocknen zu können. »Warst du schwimmen?« sagte sie keck. Ihre Stimme brach.
Ich hörte draußen Schritte, dann tauchte ein breitschultriger Mann hinter Joanna auf.
»Alles in Ordnung, Miss?« fragte er mit verläßlicher Cockney - stimme.
»Ja, danke«, meinte sie. »Könnten Sie meinem Vetter ins Taxi helfen?«
Er kam näher und sah auf mich hinunter, den Blick auf meine Handgelenke und Hände gerichtet.
»Mein Gott«, sagte er.
»Das kann man sagen«, meinte ich.
Er starrte mir ins Gesicht. Er war ein großer, stämmiger Mann um die Fünfzig mit wettergegerbtem Gesicht und Augen, die alles gesehen zu haben schienen.
»Da hat Sie aber einer schön fertiggemacht, was?«
»Und ob.«
Er lächelte schwach. »Na los.«
Ich stand ungeschickt auf, taumelte gegen Joanna und legte die Arme um ihren Hals, um nicht hinzufallen; da ich schon einmal in dieser Situation war, wollte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen lassen und küßte sie. Auf eine Braue, wie es sich gerade ergab.
»Sagten Sie >Vetter<?« meinte der Taxichauffeur.
»Vetter«, sagte Joanna entschieden. Zu entschieden.
Der Fahrer öffnete die Tür. »Sie bringen ihn wohl am besten zu einem Arzt«, empfahl er.
»Nein«, entgegnete ich. »Kein Arzt.«
»Das sind Frostbeulen«, sagte der Fahrer und deutete auf meine Hände.
»Nein«, sagte ich. »Wir haben ja gar keinen Frost. Nur die Kälte. Keine Frostbeulen.« Meine Zähne klapperten, und ich konnte nur in kurzen Sätzen sprechen.