Erstaunlich blieb, daß auch Gundi, die im Fernsehen eine Stunde lang Wortströme produzierte, im Sängersaal eher stumm dabeisaß. Förmlich zu Diegos Füßen. Zu seiner Dekoration. Sie gab die Bescheidene, das war deutlich, weil jeder wußte, im Fernsehen dreht sie auf.
Für Karl von Kahn genügte es, Geld zu vermehren, das war seine Kunst, seine Berufung. Wie dem Maler die Welt zu einem Andrang von Motiven wird, so boten sich ihm, wo er hinkam, Möglichkeiten an, Geld zu vermehren. Er hatte allerdings gelernt, seine Freude am Geldvermehren keinen Menschen merken zu lassen, oder wenn das, weil die Freude ihn einmal hinriß, nicht gelang, sie wenigstens zu bemänteln. Als er eine Zeit lang ganz aufgeregt in neueste Schiffe investierte und das auch seinen Kunden empfahl, sagte er, wenn er vor Helen seine Erregung nicht mehr verbergen konnte, er sorge dafür, daß die mürben alten Schiffe, die da und dort auseinanderbrachen und die Küsten ganzer Länder mit ihren tödlichen Ladungen verseuchten, von den Meeren verschwänden. Seine Geschäfts-Philosophie, wenn er sie rücksichtslos bekennen würde, wäre für Helen unverständlich oder, falls sie sie verstünde, unannehmbar.
Wirklich hilflos fühlte sich Karl von Kahn gegenüber Politikern, die als gebildet galten oder als christlich oder als gebildet und christlich und die durchs Land zogen und solche Sprüche predigten: Das Kapital hat den Menschen zu dienen, nicht der Mensch dem Kapital. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht nur auf den Lippen, sondern, und das fand er schlimmer, im Herzen. Wenn schon drauflos formuliert werden soll, dann doch lieber mit Reverend Ike: Das Beste, was ihr für die Armen tun könnt, ist, nicht dazuzugehören.
Er hätte durch kluge Operation immer soviel verdienen können, wie er brauchte. Aber er brauchte Kunden. Seine Kunden hatte er erobert, wie man Kunden eben erobern muß.
Zum Beispiel Professor Schertenleib. Karl hatte vor sich auf der Autobahn Richtung Garmisch, als er unterwegs war nach Farchant zur wöchentlichen Wank-Wanderung, einen schweren Mercedes gesehen, dem links vorne etwas herunterhing und auf die Straße schlug. Karl sah’s, als er überholte. Also signalisierte er dem Mercedes, daß er auf die Haltespur einbiegen sollte. Der tat’s. Der Fahrer stellte sich vor, Professor Schertenleib. Er habe schon die ganze Zeit bemerkt, daß etwas nicht stimme, ein Geräusch, ein schlagendes. Was tun? ADAC anrufen? Er könne, beinamputiert, wie er nun einmal sei, nicht unter sein Auto kriechen. Karl kniete hin, sah, daß ein Kunststoffboden sich gelöst hatte und wahrscheinlich jetzt gleich ganz losgerissen worden wäre. Das hätte für das linke Vorderrad unangenehm werden können. Er holte aus seinem Auto das Schweizer Armeemesser, das er immer dabei hat, und schnitt, was herunterhing, weg. Also kein ADAC, sondern einfach morgen zur Werkstatt, die ersetzen das. Der Professor wollte dankbar sein. Das entspreche überhaupt nicht seinen Erfahrungen, daß sich jemand, der es nicht nötig hat, um einen kümmert. So wurde geredet und ein Treffen abgemacht. Gräfelfing. Karl sagte, da komme er jeden Monat zweimal hin. Er lernte einen Herrn kennen, der von sich sagte, das Leben habe ihn so mißtrauisch gemacht, wie er jetzt sei. Er wurde Karls vertrauensvoller Kunde. Wie Karl den Professor als Kunden gewonnen hatte, das erinnerte ihn an den großen Vorgänger Mayer Amschel Rothschild, mit dem durfte er sich in einer einzigen Erfahrung vergleichen: In allem schlummert die Gelegenheit. Und will geweckt werden. In Dr. Dirks Doktorarbeit hatte er gelesen, der Stammvater der Rothschilds sei zum ersten Mal beim hessischen Erbprinzen Wilhelm vorgelassen worden, als der gerade dabei war, eine Schachpartie gegen den General von Estorff zu verlieren. Mayer Amschel riet, den Springer zu opfern und so im übernächsten Zug unabwehrbar Schach zu bieten. Der Erbprinz tat’s und siegte. Mayer Amschel wurde sein Bankier, der ihm die Wechsel, die er für verkaufte Landeskinder aus London bezog, zu Geld machte.
Karls Lieblingsfigur in Herzigs Arbeit aber wurde Nathan Mayer Rothschild. Der zog, als er achtundzwanzig war und kein Wort Englisch konnte, nach London und ersann abenteuerliche Finanzaktionen, um die englischen Truppen und die Truppen Preußens, Österreichs und Rußlands auf allen Kriegsschauplätzen mit englischem Geld zu versorgen. Ohne ihn hätten Wellington und Blücher ihre Schlachten nicht schlagen können. Ohne die englischen Subsidien waren die kontinentalen Großmächte bankrott. Und Nathan sorgte dafür, daß die auf der Insel beschlossenen Subsidien auf dem Kontinent Kaufkraft wurden. Kriegsentscheidende Kaufkraft. Dr. Dirk stellte ihn als den eigentlichen Besieger Napoleons dar. Und zitierte, was Marschall Trivulzio zu Ludwig XII. gesagt hat: Zum Kriegführen seien dreierlei Dinge nötig — Geld, Geld, Geld! Und auch noch Rabelais: Les nerfs des batailles sont les pécunes.
Es war einigermaßen erleuchtend für Karl von Kahn, der Geschichte bloß als politische Geschichte kennengelernt hatte, jetzt zu erfahren, daß Napoleon als Einnahmequellen nur Steuern und Eroberung kannte. Kredit war für ihn etwas Abstraktes oder eine Ideologie der Nationalökonomen. Dr. Dirk zitierte aus dem Moniteur, daß Napoleon, der ein Verächter des Dampfschiffs war, den Bankrott Englands vorausgesagt hat. Das war die Folge seiner Abneigung gegen die Geldwirtschaft. Er soll die Finanzleute behandelt haben wie ein orientalischer Despot. Der internationale Zahlungsverkehr, den Nathan Rothschild zum Transfer der englischen Subsidien an die Allianz gegen Napoleon erfand, blieb für den Fiskalisten und Eroberer unsolide Machenschaft. Aber noch mehr als diese historische Unterrichtung erregte Karl, was Nathan Rothschild über den Gelderwerb gesagt hat. Daß der zum Lord erhobene Geschäftsmann sich nicht einreden ließ, er habe bei seinen Operationen etwas anderes als den Gelderwerb im Sinn gehabt! Und selbst dabei sei ihm der Erwerb wichtiger gewesen als das Geld selbst. Für diese Radikalisierung der Genauigkeit war Karl dankbar. Nicht auf das Geld oder die mit Geld zu beschaffenden Dinge sei es ihm angekommen, sondern auf den Erwerb. Das allerdings war schon eine Interpretation, allerdings die eines englischen Zeitgenossen. Einmal wurde Nathan selber zitiert. Als einer seiner Tischgäste, sozusagen kulturell besorgt, sagte, er hoffe, Nathans Kinder werden nicht so sehr auf den Gelderwerb versessen sein, daß sie darüber anderes und Wichtigeres versäumen, das werde Mr. Rothschild zweifellos nicht wollen, sagte der: Das will ich wohl. Ich will, daß sie sich mit Leib und Seele und Herz und Verstand und mit allen Kräften dem Geschäft hingeben. Jemand hat ihn an der Börse so gesehen: In seiner Erscheinung ist eine Starrheit und Gespanntheit, daß man glauben könnte, es stünde jemand hinter ihm, der ihn kneift, und er fürchtete sich oder schämte sich, es einzugestehen. So wird man schließlich die führende Adresse für die Emission großer Staatsanleihen.
Karl wäre froh gewesen, wenn er jedem hätte sagen können, daß es ihm auf nichts als den Gelderwerb ankomme. Aber schon dieses Wort aus dem 19. Jahrhundert: Gelderwerb! Er möchte sagen: Auf das Geldvermehren kommt es mir an. Und warum möchte er das sagen? Weil er, wenn er einen anderen Grund nennt für seine zunehmende, ausufernde, ihn sozusagen hetzende Rastlosigkeit, das Gefühl hat, er habe gelogen. Nun läge ihm doch nichts daran, gelogen zu haben. Lüge ist der Aufstrich aufs tägliche Brot, ohne den das Brot ungenießbar bliebe. Lüge ist kein moralisches, sondern ein linguistisches Problem. Ihn quält es, sein Arbeits-, sein Handlungs-, sein Lebensmotiv mit falschen Wörtern bezeichnen zu müssen. Er weiß nicht, warum er unter diesem Verfälschungszwang leidet. Er stellt es sich als eine Erlösung vor, alles so zu sagen, wie es ist.