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Diego hatte Jeff Stamp nicht nur eine Einrichtung beschafft, sondern eine Geschichte aus tausend Geschichten. Das habe Jeff am meisten gefreut. Jetzt konnte er, wenn seine Freunde aus Kalifornien kamen, die Rolle des Hausherrn geben.

Als Diego Marmoutier-le-Rideau hinter sich hatte, konnte er monatelang nicht vor zwei Uhr, drei Uhr nachts aufhören, wenn er seine Freunde und Bekannten und Leute, die seine Kunden werden konnten, nur mit dem Nötigsten versorgen wollte. Er hatte aus dem Schlösserparadies Frankreichs etwas mitgebracht, was er Jeff Stamp wohl für keinen Preis überlassen hätte. Aus dem Schloß Sully eine Chaiselongue, auf der Voltaire gesessen hatte, wenn er die Abendgesellschaft unterhielt. Von dieser Chaiselongue aus hatte Voltaire dem Salon den Satz gesagt, für dessen Unsterblichkeit die Aufmerksamkeit der fabelhaften Zuhörerschaft sorgte: Le superflu, chose très nécessaire. Und Diego konnte aufzählen, welche Comtes und Comtessen um den gefährlichen Philosophen herumsaßen und hörten, daß das Überflüssige das wirklich Notwendige ist.

Was Diego sagte, war Sache, Tatsache, historisch beglaubigt. Diego verkündete nicht, er erzählte. Und das unter einem Zwang, der es nicht duldete, daß ihm ein anderer dazwischenfahren, ihm gar das Wort rauben wollte. Solche Unterbrecher, die es ja gab, tun so, als gehöre das, was sie jetzt sagen wollen, zu dem, was Diego gerade erzählte. Diego musterte solche Unterbrecher mit einem kindlichen Staunen. Und Karl staunte seinerseits jedesmal, wie Diego dann das Wort wieder eroberte. Als einmal, wieder einmal, über Alt-Schwabing gesprochen wurde und Diego gerade dabei war, die Geschichte eines Hauses mit weißen Gitterbalkons und säulenumstandenem Portal zu erzählen, eines Hauses, in dem angeblich zuerst der SA-Stabschef Ernst Röhm und dann Werner Heisenberg gewohnt habe, flocht Marcus Luzius Babenberg, weil er schon zu lange hatte zuhören müssen, ein, daß ja keine zehn Minuten weiter, nämlich in der Agnesstraße 54, Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes geschrieben habe. Und Diego, so herablassend, wie nur der Überlegene sein kann: Ja, bloß hat, was Spengler da schrieb, noch nicht geheißen Der Untergang des Abendlandes, sondern Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte. Und leiser, wie zu sich selbst, fügte er noch hinzu: Genauigkeit darf schon sein. Aber als Diego eine halbe Stunde später Leonie von Beulwitzen ermuntern wollte, zuzugreifen und dazu sagte, er sage es ihr mit Karl Kraus, der in den Letzten Tagen der Menschheit zu Ganghofer sage: Jetzt essen Sie doch, Ganghofer! da konnte, da mußte Babenberg verbessern, das sage nicht Karl Kraus, sondern Karl Kraus lasse das Wilhelm II. sagen!

Manchmal erholte sich Diego nicht mehr von solchen Einsprüchen. Er zog sich dann früher zurück und immer mit der Formeclass="underline" Morgen wieder lustig. Daß sich mit dieser Formel Jérôme, der eine Zeit lang König von Westphalen war, von seinen Gelagen verabschiedet hatte, war inzwischen allen bekannt. Erstaunlich war, daß die Dikussionen auch nach Diegos Weggang durchaus weiterbranden konnten. Gundi blieb bis zu jedem Schluß. Da blieb man doch einfach auch. Gundis Attraktivität nahm, wenn Diego einmal weg war, geradezu spürbar zu. Wahrscheinlich bildete sich jeder ein bißchen ein, sie bleibe seinetwegen. Karl von Kahn gestand sich diese Einbildung auf dem Heimweg jedesmal.

Wenn die Abende normal verliefen, also bis tief in die Nächte hinein, rief Diego gewöhnlich am Vormittag an und sagte: Es ist leider wieder spät geworden, und leider habe ich wieder ein bißchen viel geredet. Dann mußte Karl sagen, daß es kein bißchen zuviel gewesen sei. Oder: Daß es keinen außer Diego gebe, dem man so lange zuhören möchte. Das bestritt Diego glaubhaft, danach konnte man über die Themen des Vormittags reden. Wenn man aber seinem Hinweis, daß er wieder zuviel geredet habe, nicht ernsthaft widersprach, kam er noch Tage, ja sogar Wochen später darauf zurück. Er finde es doch ziemlich hart, sagte er dann, daß sein Freund Karl ihn nicht befreit habe von dem von ihm selbst erhobenen Vorwurf, zuviel, zu lange geredet zu haben. Meistens beschloß er dieses Thema mit dem Satz: Ich bin einfach zu sensibel. Gar keine Frage, daß er Karl näher war als den anderen Befreundeten.

Aber was hat Gundi, die Teuflischgöttliche, am Nachmittag in ihrer Bar gedacht oder gewollt? Manchmal muß man sich Mühe geben, nicht zu sehr verstanden zu werden, hatte sie gesagt. Und er, dämlich: Ich weiß. Und sie ganz intensiv, geradezu bohrend: Manchmal merkt man, man wäre ruiniert, wenn einen der andere verstünde. Und er, total dämlich: Genau. Erst danach hatte er ein bißchen aufholen können. Aber da war es zu spät. Sie war schon, wenn sie je irgendwo anders gewesen war, zurück bei Diego. Danach nur noch das Geschäft. Plus Theater. Von dem er nichts ahnte. Gundi nackt! Nach allem, was passiert war, hätte Diego nichts dagegen haben können, daß Karl zu Gundi gesagt hätte: Wenn ich jetzt gehe, ohne dich gefragt zu haben, ob ich deinen unwahrscheinlichen Hals berühren darf, dann werde ich mir das, wie ich mich kenne, ewig vorwerfen. Aber er war einfach gegangen. Feigling, hatte sie gesagt. Wie sie nackt aussieht, ist nicht leicht vorstellbar. Es ist auch egal, wie sie nackt aussieht. Wie sie nackt ist, ist entscheidend. Sie ist Art déco. Die ins Schöne verliebte Schönheit. Die rasende Selbstsucht. Die Allesversprechende. Und Nichtsgewährende. Mein Gott. Sie ist Fernsehen, basta.

Er mußte ans Telefon. Helen. Sie rief zum Essen. Bärlauch-Pesto!

Genau, sagte Karl und ging hinunter.