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Am nächsten Morgen wachte Karl von Kahn schon um halb sechs auf anstatt, wie er’s gewohnt war, um sechs. Mit ihm erwachte ein Traum, den er sicher nicht erst in den Frühstunden geträumt hatte, der hatte aber darauf gewartet, daß Karl aufwache und sich mit ihm beschäftige. Diego!
Ein gewaltiger Unfall mit Diego. In Diegos Lancia. Mehrmals überschlagen, das Auto zerriß in zwei Teile, im vorderen Teil, der einige Meter voraus gelandet war, saß Diego reglos am Steuer. Im hinteren Teil krümmte sich Karl in ein vom Unfall gebogenes Blech, das ihn so umgab, daß er wußte, er habe diesem Blech sein Überleben zu verdanken. Und er dachte sofort daran, wie oft er Diego schon gebeten hatte, nicht so zu rasen. Und Diego hatte immer gelacht und gelegentlich gesagt, dieses Auto würde es ihm übelnehmen, wenn er ihm nicht seine natürliche Geschwindigkeit gönnte. Jetzt sah Karl, daß seine Tochter Fanny vorne neben Diego saß. Und er wußte, daß er nicht sagen durfte: Ich hab’s doch immer schon gesagt. Er spürte überdeutlich, wie sehr Diego darunter litt, daß ihm ein solcher Unfall passiert war. Er wußte, er mußte sofort hin zu Diego und lachen. Das tat er. Wand sich aus der Blechhülle, versicherte sich seiner Glieder, lachte und lachte. Lachte, bis er Diego aus seiner Schreckstarre erlöst hatte. Diego lächelte. Mir fehlt nichts, rief Karl. Doch, sagte Fanny, nahm Karls Hand, griff mit zwei Fingern ein weghängendes Stück Fleisch, gab Karl den Blick frei ins Innere. Da sah er tief in sich hinab. Ein entsetzlicher Anblick, ein Durcheinander aus blutigem Fleisch und blutigen Zwetschgen. Und als er sagen wollte, es sei doch erstaunlich, daß er mit blauen blutigen Zwetschgen gefüllt sei, entwand sich dem Durcheinander eine Maus, die sprang ihm ins Gesicht. Mehr wußte er nicht mehr.
Und nur durch Manöver wie das mit Karl und Puma habe er überlebt. Vielen Dank, lieber Karl, für dein Verständnis. Bis bald.
Auch wenn sie einander nicht mehr so nah waren, wie sie einmal gewesen waren, die frühere Nähe erlaubte kein anderes Gefühl als das, das sich jetzt in Karl festigte. Wenn man einmal so befreundet war, kann man einander nicht mehr betrügen. Alles, was man dem anderen überhaupt antun kann, muß von dem verstanden werden. Karl war froh, daß er jetzt dieses Gefühl hatte. Diego war sein einziger Freund gewesen. Und was einmal war, kann nicht durch irgendwelche Operationen dazu verurteilt werden, nicht gewesen zu sein. Wenn etwas nicht mehr ist, hört es nicht auf, gewesen zu sein.
Diegos Zusammenbruch war kein Theater. Diego ist aufgewacht, hat gewußt, heute muß er seinen Freund täuschen, vorübergehend täuschen. Hat das gedacht und mußte, laut Gundi, kotzen und konnte sich nicht mehr rühren. Das war der Schock. Natürlich hätte Diego anrufen können, hätte sagen können, er müsse jetzt, um nicht ganz verloren zu sein, zum Befreiungsschlag ausholen … Dazu hat sein Vertrauen nicht gereicht. Er war schon zu weit weg. Zuerst die zunehmende Entfernung, dann plötzlich: Ich brauche dich! Das hat er nicht geschafft. Er könnte immer noch anrufen: Du, ich hatte keine Wahl, versteh’s oder versteh’s nicht, mir wär’s lieber, du verstündest.
Um Punkt sieben rief Professor Schertenleib an. Wie Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel konnte der Professor anrufen, wann er wollte.
Er werde dieses Land so schnell wie möglich verlassen, er bitte Herrn von Kahn, möglichst heute noch zu ihm zu kommen.
Die Ruhe, mit der der Professor das mitteilte, war alarmierend. Karl sagte aber genauso ruhig: Wenn es Ihnen recht ist, bin ich um zehn bei Ihnen. Der Professor liebte eindeutige Aussagen. Er war Physiker.
Zuerst mußte Karl noch Erewein anrufen. Wieder keine Antwort. Das war beunruhigend. In der ersten Maihälfte. Jetzt rief er doch bei Meschenmosers an. Frau Meschenmoser brauchte viele Sätze, um mitzuteilen, daß sie gedacht habe, der Herr von Kahn sei von seinem Bruder auf dem laufenden gehalten worden darüber, daß Frau Lotte heute vor drei Wochen hat ins Krankenhaus müssen, daß der Bruder zu ihr gezogen ist ins Krankenhaus, in das in der Nußbaumer Straße, daß die Operation gut verlaufen ist, daß aber an ein Zurückkommen der beiden nicht vor Ende dieser Woche zu denken ist und daß Lusch, die Katze, sich bei Meschenmosers gut eingelebt hat, weil sie ja, seit Frau Lotte diese Schmerzen gehabt hat, sowieso schon mehr bei Meschenmosers gewesen ist als drüben.
Karl von Kahn sagte: Bloß gut, daß es Sie gibt, Frau Meschenmoser.
Man tut, was man kann, sagte sie.
Karl nahm sich vor, Frau Meschenmoser einen Frühlingsstrauß zu schicken. Im Krankenhaus würde er erst am Nachmittag anrufen. Zuerst zu Professor Schertenleib.
Der Professor war, als sich Karl von der Hypo getrennt hatte, mit Karl gegangen. Der Professor war, als Anleger, Karls Geschöpf. Vierundsechzig war er gewesen, als er, nach der Begegnung auf der Autobahn, sein Überflüssiges Karl anvertraute. Und dann immer weiter, alles, was er nicht brauchte, ließ er von Karl vermehren, und das Vermehrte überließ er Karl zur weiteren Vermehrung. Das andauernde Beobachten dieser immer wieder von überraschenden Hemmnissen bedrohten Vermehrung wurde Schertenleibs liebste Beschäftigung. Das heißt: Er wurde ein Karl-von-Kahn-Kunde schlechthin. Verbrauch fand er kitschig. Die Vermehrung seiner Werte erlebte er als Erfolg. Er wollte von jeder Umschichtung, von jedem An- oder Verkauf genau informiert werden. Er war ein anstrengender Kunde. Solche Kunden liebte Karl von Kahn.
Einmal hatte er Karl anvertraut, er wäre lieber nicht Physiker geworden, sondern Sänger, Opernsänger, wenn er im Krieg nicht ein Bein verloren hätte. In Stalingrad. Oberschenkelamputiert. Geht doch nicht, Tristan, oberschenkelamputiert. Und hatte eine Arie angeträllert. Dieses rasche Hineinsingen kam immer wieder vor, wenn man mit ihm sprach. Es war, als seien in ihm Arien gefangen, die darauf warteten, daß sie ihm aus der Seele und aus dem Mund kämen. Er war einfach voller Arien, voller Musik. Er hatte Tristan singen wollen und Lohengrin und Tannhäuser. Dann aber Physik. Atomphysik. Statt Staatsoper Siemens.
Die Villa in Gräfelfing war in der Zeit der Sichtbeton-Architektur gebaut worden, kälteste Moderne. Auch an diesem hellsten Maitag mußte Karl angesichts des Betonwürfels an einen Bunker denken. Auf dem Flachdach wuchs ein bißchen Gras. Im Haus sorgten Schränke, Bilder und Regale dafür, daß der Sichtbeton erträglich blieb. Wie immer wurde Karl auch diesmal in das Zimmer geführt, das fast die ganze Hausbreite zum Garten hin einnahm. Kalte, schwarze, lederbezogene Sitzgelegenheiten, das Sofa erinnerte ihn an das dänische Sofa, auf dem Gundi ihre Fernsehkarriere gestartet hatte. Und ein gewaltiger Flügel. Aufgeklappt. Mit Noten.
Als sie saßen und einen Schluck Evian getrunken hatten, machte der Professor eine Handbewegung, daß Karl verstand, er solle das Gespräch eröffnen.
Ja, sagte Karl ganz hell, Sie wollen also dieses Land verlassen.
Ich muß, sagte der Professor. Meine Kinder, die zwei eigenen und die angeheirateten gleichermaßen. Und die Enkel. Jetzt auch die Enkel.
Der Professor, der in seinem Sessel auf mehreren Kissen saß, stemmte sich hoch und ging auf und ab. In der Stadt sah man ihn nie ohne Stock. Im Haus immer ohne Stock. Er war ein Hüne mit einem Habichtprofil. Und immer noch silbernes Haar. Und braungebrannt. Der Professor war schön. Sein Auf- und Abgehen wirkte angestrengt. Er konnte auch nicht gleich sprechen. Bei jedem Schritt knickte er nach vorne, warf das Prothesenbein voraus, richtete sich auf und holte mit einer Drehung der linken Schulter das linke Bein, das gesunde, nach. Dann wurde die Prothese mit einem leichten Einknicken des Oberkörpers wieder vorausgeschickt, der Oberkörper aufgerichtet und die linke Partie hereingedreht. Sein Gehen paßte zu dem, was er sagte. Karl begriff, daß der Professor, was er sagte, nicht im Sitzen sagen konnte.
Die Kinder, sagte er, die eigenen und die angeheirateten, und jetzt auch schon die Enkel. Obwohl, die Enkel, sie reden noch nicht so daher wie ihre Eltern, sie staunen noch, mitleidig staunen sie, sie kommen mir sogar so nah, daß sie schielen, sie streicheln mich, aber sie verteidigen mich nicht. Gegen ihre Eltern. Die Schlacht ist entschieden. Seit heute nacht. Gestern sein Geburtstag. Tochter Mildred hat den ganzen Tag gekramt. Er hat sich gefreut, daß sie sich endlich für die Schachteln in den Kellerschränken interessiert hat. Dann, abends, gibt sie ihm, bevor die anderen im Raum sind, den Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1944, aufgeklebt auf ein Blatt schlechten Papiers, legt ihm das hin und sagt: Tun wir weg. Es war die Todesanzeige für Gerhard, seinen Zwillingsbruder.