Sein Leben, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, hat nun im Opfertod seine Erfüllung gefunden.
Mildred meinte, ihre Kinder sollten so etwas nicht sehen und ihr Mann Jost auch nicht. Er sagte ihr, daß er vorhabe, an diesem Abend zu erzählen, was er vor einem Monat auf dem Heldenfriedhof Charinki erlebt hatte. Einhundert Kilometer südlich von Wjasma. Da kamen schon die anderen, Mildred wollte die Todesanzeige verschwinden lassen, er nahm sie ihr weg, er präsentierte sie nach dem Essen. Sohn und Schwiegersohn und Tochter und Schwiegertochter boten mildernde Umstände an, das heißt, sie verstünden ja, daß er den Mai 45 als Niederlage erlebt haben könnte, aber in die Geschichte werde er aus guten Gründen eingehen als Monat der Befreiung.
Die seien ja, wie sie da um ihn herum saßen, noch ganz im Bann ihrer Gedenkübungen gewesen. Die gehören, sagte er, jetzt zum Mai wie früher Alles neu macht der Mai. Nun möge Herr von Kahn bitte bedenken, daß der Vater des Schwiegersohns Jost SS-Oberscharführer gewesen sei. Sein und Gerhards Vater aber war Bürgermeister in Tannheim und wurde abgesetzt, weil seine Frau im jüdischen Geschäft kaufte, obwohl da dranstand: Kauft nicht beim Juden. Der Vater kam dann notdürftig unter bei einem Freund als Hausmeister. Gerhard wurde vom Ortsgruppenleiter geohrfeigt, weil er ohne Hitlergruß an einem SA-Trupp vorbeigegangen war, der gerade eine Adolf-Hitler-Linde pflanzte.
Seine Geburtstagsgesellschaft hat der Professor gefragt, ob er erzählen dürfe, wie er um sein rechtes Bein gekommen sei. Das wollten die Enkel unbedingt hören. Also erzählte er: Er war kein Kriegsfreiwilliger oder Berufssoldat, er wurde eingezogen zur Infanterie, an Pfingsten 41 verlegt nach Polen, bis an den Bug, am 23. Juni um drei Uhr fünfzehn ging es los, Flieger, Geschütze, alles über sie weg. Sie sahen drüben auf der russischen Seite die Einschläge. Sie sind erschrocken. So eine Hölle hatten sie noch nicht erlebt. Er war ausgebildet als Funker. Jetzt über den Bug, über die Beresina, Mogilev, Smolensk, vor Moskau erwischten ihn drei Granatsplitter, alle drei in die linke Wade, in Jena wieder marschfähig gemacht, zurück in die Donsteppe, weiter ging’s bis Stalingrad. Sie schafften es bis zur Stadtmitte. Drei Monate lang hielten sie sich da. Bei einem Stoßtrupp warfen sie sich, um einem T 34 zu entgehen, in einen Granattrichter. Der T 34 kam auf sie zu, wollte sie überrollen. Er hatte noch eine Handgranate, die warf er dem in die Ketten, rannte los, wollte hinter einer Hausruine in Deckung gehen, der Panzer schoß, zerschoß ihm das rechte Bein, im linken Arm Granatsplitter, halb im Dusel hat er mit seinem umgehängten Funkgerät Hilfe herrufen wollen, das Gerät war zersplittert. Er hatte Angst, Angst, daß die Russen kommen und ihn noch gar totschlagen, da rennt sein Kompaniechef her und schleift ihn in einer Zeltplane zurück, im Behelfslazarett am Stadtrand wird amputiert, er liegt tagelang, wieviel Tage weiß er nicht, in einen Zementsack verschnürt in einem ausgetrockneten Abwasserkanal und wird, bevor die Russen den Flugplatz Pitomir erobern, ausgeflogen ans Schwarze Meer. Auf dem Heldenfriedhof von Charinki an Gerhards Grab hat er gedacht, daß er nur überlebt hat, weil Gerhard gefallen ist. Beide tot, das hätte die Mutter nicht aushalten können. Bei ihrer Aussegnung sagte der Pfarrer, daß man dem Herrn lebe und sterbe, und nicht für sich. Stimmt nicht, hat er gedacht, seine Mutter hat nicht dem Herrn gelebt, sondern ihren Zwillingen. Was die Söhne gesagt und getan haben, war immer richtig. Sie hat nie eine Sekunde an Gerhard oder an ihm gezweifelt. Ihretwegen hat er überleben müssen. Daß man dem, was man nicht begreift, einen Sinn geben muß, weiß nur, wer mit der Sinnlosigkeit zu tun gehabt hat. Im Opfertod seine Erfüllung. Dann die Niederlage. Dann hat man erst zur Gänze erfahren, was für ein Drecksregime das war. Und wenn die in Stalingrad ihm das Bein nicht zerschossen hätten, wäre er überhaupt nicht mehr herausgekommen. Also hat er Glück gehabt.
Sag doch nicht immer Heldenfriedhof, sagte Mildred.
Die Enkel hatten große Augen. Jost sagte, man müsse einen Irrtum nicht lebenslänglich beibehalten.
Einen Irrtum! Da hat er sagen müssen, daß es nicht jedem gegeben sei, die eigene Biographie so zu optimieren, wie es Josts Vater gelungen sei. Zuerst Oberscharführer, dann evangelische Theologie, dann Pfarrer, und als es doch brenzlig zu werden drohte, Pfarrer in Südafrika und eine Schwarze geheiratet.
Folgte ein wüster Streit. Er bestand auf der ihm vorgeworfenen Unbelehrbarkeit. Er hat der Bande ihre Ignoranz nicht erlebbar machen können. Der Geburtstag ist ausgefallen. Er muß fort. Aber er will auch.
Zurück auf den Kissen seines Sessels, ließ er die Finger auf den Lehnen Klavier spielen. Und bat Karl von Kahn um Auskunft.
Karl war vorbereitet. Er hatte die Nenn- und die Kurswerte verglichen, er hätte Summen aufsagen können. Er hätte nicht ohne Zufriedenheit melden können, daß er aus einem Einsatz von nicht ganz einhunderttausend Mark einen Depotwert von fast drei Millionen Euro erwirtschaftet hat. Und das ohne je auch nur einen einzigen Euro in eine Firma investiert zu haben, die mit Waffenproduktion oder — verkauf zu tun gehabt hätte. Rheinmetall, Krauss-Maffei oder gar EADS hatte Karl von Kahn zu meiden. Eine Firma, in der mit Lenkflugkörpersystemen experimentiert wurde, kam nicht in Frage.
Doch der Professor mußte, auch als er saß, noch einmal von der Familienschlacht sprechen. Nach drei Uhr in der Nacht hat Mildred gerufen, daß jetzt Frieden sei zwischen uns. Sie hatte von allen am meisten getrunken. Die Enkel waren schon im Bett. Toleranz, rief sie, Toleranz für alle und alles. Volle Anerkennung einer unbehebbaren Unvereinbarkeit.
Diesem Zapfenstreich sei allerdings noch vorausgegangen ein Themenwechsel, weg vom Krieg, hin zu des Professors Arbeit für die Kraftwerkunion. Jetzt stellte sich heraus, daß die Tochter Mildred als Kind Todesängste ausgestanden hat, wenn der Vater damals beim Abendessen die Unsicherheits-Philosophie der KWU zum besten gab. Was passiert in den ersten zehn Sekunden nach einem Riß der Primärrohrleitung, aufgeteilt in Zehntel- und Hundertstelsekunden? Kommt das Reservekühlwasser überhaupt noch bis an die Brennstäbe? Die Absorberstäbe können die Reaktion bis auf drei Prozent herunterdrücken, wenn sie nicht auch gleich einschmelzen in der ersten Zehntelsekunde, in der das Kühlwasser fehlt. Und drei Prozent von vier Millionen Kilowatt sind noch einhundertzwanzigtausend Kilowatt, eine Wärmemenge, die den Außenbehälter mit einem Fünzigtonnenschub in die Höhe hebt und, je nach Windrichtung und — stärke, eine zwei Kilometer breite und fünfzehn Kilometer lange Todesschneise zieht. Da überlebt nichts. Das rezitierte Mildred wortwörtlich. Das konnte sie auswendig. Was Mildred nicht mitkriegte, ist, daß ihr Vater dafür gearbeitet hat, dieses Szenario zu verhindern. Und es ist verhindert worden. Die Sicherheitsbestimmungen für Atomkraftwerke in Deutschland sind so überkandidelt, daß Export kaum möglich ist. Acht TÜVs! Und die müssen noch mit den Innenministerien korrespondieren. Beschlüsse nur einstimmig. Solange es eine abweichende Meinung gibt, kann, was geschieht, falsch sein. Es war nie etwas falsch. Und jetzt kommt die eigene Tochter und sagt, die Vatergeneration habe ihre Unbelehrbarkeit demonstriert. Zuerst Krieg, dann eine Atomtechnik, die jeden bisherigen Krieg zum Kinderspiel mache. Also was bleibt uns, als uns unvereinbar zu sehen.