Da habe er nur noch sagen können, er hoffe, daß sie und ihre Kinder nicht eines Tages gefragt werden: Warum habt ihr euch jeden Tag sattgegessen, obwohl in jedem Süden andauernd vor Hunger und Elend gestorben wurde.
Dann sei er gegangen. Jetzt sind sie fort. Mühsam gekittete Risse. Die Augen der Enkel beim Abschied blieben groß. Er muß dieses Land verlassen. Er ist diesem Rechtfertigungsdruck nicht gewachsen. Also, Herr von Kahn, verkaufen wir. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf.
Karl sagte: Darüber wird zu sprechen sein.
Dieser Jost, sagte der Professor, stammt aus einer reinen Nazisippe. Mein Vater wurde aus dem Amt gejagt. Dem seine Sippe hat Karriere gemacht, hat kassiert.
Das ist, sagte Karl, das Normale. Nazikinder passen schärfer auf.
Ja, sagte der Professor, aber warum auf andere. Ihre Vorfahren haben aufgepaßt, daß ja jeder Nazi sei. Und sie passen jetzt auf, daß ja keiner Nazi sei. Das heißt, es gibt Aufpasserfamilien. Rechthaberfamilien. Ob es sich vererbt oder nur tradiert wird, ist ihm egal. Familien, die jedem System zugehörig sind, ob Demokratie oder Diktatur, sie müssen nie auf sich selber aufpassen, sondern immer auf andere. Es kommt darauf an, zu denen zu gehören, die bestimmen, was gut und was böse ist. Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Sich zu rechtfertigen, sagte Karl von Kahn, ist genauso töricht, wie andere zur Rechtfertigung zu nötigen. Er fühle sich verpflichtet, dem Herrn Professor zu sagen, daß er selber trainiere, sich nie zu rechtfertigen. Er wisse, daß nichts von dem, was geschieht, zu rechtfertigen ist. Trotzdem gelinge es jedem Unbedarften, ihn in Rechtfertigungsverkrampfungen zu stürzen. Nichts, was geschieht, geschieht ohne Grund. Trotzdem: Nichts ist durch den Grund, aus dem es geschieht, zu rechtfertigen. Bitte, Herr Professor, entschuldigen Sie die unerbetene Aussage. Sie beherrscht mich, weil ich täglich gezwungen werde zu rechtfertigen, was durch mich geschieht. Und Sie haben es doch gesagt: Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Dann kam Karl von Kahn zur Sache.
Was der Professor in den letzten zwanzig Jahren entwickelt habe, sei ein Wertebauwerk. Und er, Karl von Kahn, habe sich mit viel Freude an der Erschaffung dieses Werks beteiligt. Soll man so etwas, darf man so etwas von einem Stimmungstaifun verwüsten lassen? Die Tochter Mildred wird anrufen oder zurückkommen, sie wird einsehen, daß man über das Leben eines anderen, und sei es der eigene Vater, nicht richten kann wie über ein Strafgesetzbuchdelikt.
Und bat, den Professor zum Essen einladen zu dürfen.
Fraglos essen. Sonst nichts. Über alles andere reden wir später. Nur soviel vorweg: Glattstellung, Gewinnmitnahme und Schluß, das ist nicht Professor Dr. Hartmut Schertenleib. Das spüre ich. Und was ich spüre, das wissen Sie längst, ist immer das, was das Leben will. Ich bin immer auf der Seite des Lebens. Und Sie auch. Und daß Sie desertieren, kann ich nicht hinnehmen. Kommen Sie. Sie und ich bedürfen nicht der Anerkennung anderer, solange wir unser Essen selber bezahlen können, Herr Professor. Nur wenn wir abhängig wären, wären wir verloren. Aber wir, Sie und ich, haben es dahin gebracht, daß wir in diesem Augenblick unabhängig sind. Und das zu empfinden müssen wir lernen. Kommen Sie.
Der Professor bot Karl von Kahn seinen Arm. So gingen sie. Arm in Arm. Der Professor summte, dann sang er sogar. So leise er blieb, das war Gesang. Mehr kann nichts Gesang sein als dieses volltönende Pianissimo des Beinamputierten. Weil es eine von Karls Lieblingsarien war, drückte er den Arm des innig singenden Professors fast heftig an sich. Intonierte dieser alte Trotzkopf doch Nie sollst du mich befragen.
Als Karl von Kahn dann in der Osterwaldstraße die Haustüre hinter sich schloß, rief er, ohne zu wissen, wo Helen gerade war, ob sie ihn also höre oder nicht: Liebling, ich habe einen wunderbaren Beruf. Helen hörte ihn offenbar nicht oder war gar nicht im Haus, also ging er hinauf unter seine honigfarbenen Lärchenbretter und schrieb die nächste Kunden-Post.
Ihm war auf der Rückfahrt von Gräfelfing in der U-Bahn eingefallen, es sei Zeit, in jeder Kunden-Post eine Kolumne zu haben unter dem Titeclass="underline" Wörterbuch für Anleger. Das war ihm eingefallen, als er das Gespräch mit Professor Schertenleib noch einmal durchging. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf, hatte der Professor gesagt. Nach mehr als zwanzigjähriger Anlegepraxis wußte der Professor noch nicht, was ein Leerverkauf ist.
Karl würde die Kolumne eröffnen mit Leerverkauf. Und notierte gleich: Man kann ein Wertpapier verkaufen, das man noch nicht besitzt. Das nennt man einen Leerverkauf. Jemand glaubt, am 1. März sei die XY-Aktie 100 Euro wert, ich verkaufe sie ihm jetzt für 70 Euro das Stück. Ich habe diese Aktien nicht, ich glaube aber, die Aktie fällt im Preis und wird kurz vor dem 1. März für 60 Euro pro Stück zu kaufen sein. Abgemacht ist: Der Käufer kriegt von mir Aktien für 70 Euro das Stück, die mich, hoffe ich, 60 Euro das Stück gekostet haben werden. Dieser jetzt vereinbarte Verkauf ist ein Leerverkauf. Leerverkauf wäre auch, wenn man die Aktien, die man verkaufen will, mit geliehenem Geld bezahlt. Shorting heißt es in Amerika. Es gehört nicht zu den geringsten Reizen des Handels mit Wertpapieren, daß man etwas verkaufen kann, das man nicht besitzt. Ein Handel also mit virtuellen Werten.
Er durfte hoffen, der Herr Professor, der die Kunden-Post immer las, werde diese Ausführlichkeit zu schätzen wissen. Und werde bleiben.
Die Enkel kamen ihm so nah, daß sie schielten. Das war der Satz, den Karl nicht loswurde. Seine Enkelinnen Tanja und Sonja hatte er noch nie gesehen.
Helen klopfte an, und Karl dachte wieder einmal, daß er diese am Anfang eingeführte Formalität längst hätte abschaffen müssen. So wie sie sich NWG, die Neue Wohngemeinschaft, genannt hatten, so hatten sie damals, um auszudrücken, wie selbständig jeder weiterhin sei, das Anklopfen eingeführt. Dazu gehörte, daß nicht angeklopft und sofort eingetreten wurde, es wurde gewartet, bis von drinnen ein Ja kam. Aber in diesem Ja konnten Stimmungen ausgedrückt werden. Jetzt zum Beispiel jubelte Karl ein Ja hoch, das Helen signalisierte, wie willkommen, erwartet und herbeigesehnt sie sei. Formalitäten sind eben doch etwas wert.
Das Vergißmeinnichtblaßblau ihrer Augen beschwor das Gundi-Türkis herauf. Gundis Türkis, das reine Eis, Helens Vergißmeinnichtblaßblau, die Wärme selbst. Ihr Blondhaar hatte sie hinten hochgesteckt, daß es frech aussah, und ihre Lippen lagen so aufeinander, daß die Oberlippe besonders deutlich nach links und die Unterlippe nach rechts schaute. So deutlich überkreuz, das hieß, sie war übermütig. Und das hieß bei Helen, Karl durfte sie an der Hand nehmen, sie zu sich herziehen und sein Kinn in ihren Haaren reiben, so fest, wie er wollte.
Sie blieben eine Zeit lang so, dann sagte sie, sie wolle ihm, wenn sie dürfe, vorlesen, was sie heute dem Erfolgreichen Patienten als Schluß entworfen habe.
Karl imitierte die Geste, mit der Professor Schertenleib ihn eingeladen hatte, das Gespräch zu eröffnen. Helen las:
Jeder Körper trachtet nach Unsterblichkeit. Das unüberschaubare Zusammenwirken aller körperlichen Systeme ist daran interessiert, daß es weitergeht. Weil wir vergessen haben, wovon wir bestimmt werden, hat sich die Kulturlegende eingebürgert, der Mensch als geistiges Wesen sei an der Unsterblichkeit interessiert. Dabei ist es der Hort des Lebens, der Körper, der überleben will. Ich rate dir, dich zu vergessen. Selbstbewußtsein ist ein sinnloses Wort. Wenn du immer an etwas denkst, was du nicht bist, wirst du gesund. Am meisten ist das Leben sich selbst überlassen im Schlaf. Deshalb ist der Schlaf das Heilende schlechthin. Wenn wir schlafen, können wir dem Leben nicht dreinpfuschen. Aber es gibt einen Schlaf, in dem die Träume toben. Da setzt sich der Wachzustand in einer übertreibenden Entfesselung fort. Das Wirkliche, unbewacht, gerät außer Rand und Band. In dem Schlaf, der das erleiden muß, ist das Heilende bedroht. Und trotzdem wirkt es noch. Das Toben der Träume drückt aus den Kampf des Schlafes gegen den Einbruch einer nicht mehr zu kontrollierenden Wirklichkeit. Also wollen wir wissen: Wie muß unser Tag verlaufen, daß die Wirklichkeit den Schlaf als Heil und Heilendes gelten lassen muß? Eine Erfahrung, die noch nicht zum Ziel führt, aber doch eine Ahnung stärkt: Wörter meiden, die nicht selbstverständlich sind. In die Sprache sind viele Wörter hineingekommen, die nicht von selber verständlich sind. Zum Beispieclass="underline" Angst, Sex, Gott, Bewußtsein, Wahrheit, Ethik, Moral, Freiheit … Mit solchen Wörtern wirst du dir selber gegenüber in eine Stimmung des Nichtgenügens versetzt. Und das Nichtgenügen ist dann der Dirigent aller Träume, in denen der Schlaf seines Heils und seines Heilenden beraubt wird. Ein Schlaf, der nicht gemartert wird von Traumsequenzen des Ungenügens, kann nicht anders, als sein Heil und sein Heilendes zu entfalten. Träumend ist jeder Mensch ein Dichter. Der Dichter hat Erfahrung im Beantworten widrigen Schicksals, aber auch im Aufblühenlassen der Spur des Glücks. Nicht umsonst haben sich sogenannte Traumdeuter zu allen Zeiten hergemacht über die Träume der Menschen und haben den Menschen Ahndungen verpaßt durch die simple Übersetzung des Geträumten in die Wörtersprache, aus der die Träume ihren traurigen Anlaß haben. Tautologie. Vernichtung des gewöhnlichen Dichterischen jeden Traums. Der Traum ist wie jedes dichterische Wort nicht nur ein Geständnis, sondern auch ein Widerspruch. Den unterschlägt der Deuter.