Die Wörter, mit denen dein Nichtgenügen produziert wird, sind selber Ausdruck einer Unmöglichkeit. Es gibt ihnen gegenüber nichts als das Versagen. Das ist beabsichtigt. Wenn du ihnen hörig bist, zahlst du drauf. Mit deinem Schlaf zahlst du drauf. Und bleibst ein Patient. Ein erfolgloser Patient.
Das Leiden ist nicht abzuschaffen, es kann nicht aus der Welt hinausdefiniert werden. Wir bleiben Patienten. Aber nicht Kranke. Das muß jetzt klargeworden sein. Der erfolgreiche Patient sorgt dafür, daß er leidet, ohne krank zu sein. Die Kunst, das Leiden zu genießen, wird ahnbar, wenn wir den unguten Wörtern widerstehen, unsere Hörigkeit kündigen.
Ach, Helen, sagte er und zog sie noch heftiger an sich.
Bevor du mich erstickst, sagte sie, muß ich dir noch sagen, daß ich dich immer noch zu wenig kenne.
Ich fühle mich durchschaut, sagte er.
Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er hatte das Gefühl, er halte den Kopf eines Vogels in seinen Händen.
Das sagte er ihr.
Was für eines Vogels, sagte sie.
Eines Paradiesvogels, sagte er.
Eines Paradiesvogels, sagte sie in einem alles beendenden Ton. Sie verlispelte das dreimal vorkommende S mehr als bei ihr üblich.
Das hieß, es stürmte und drängte in ihr. Auch ihre Augen drückten das aus. Das Vergißmeinnichtblaßblau verfestigte sich zu einem leuchtenden Wegwartenblau.
Ich will ein Kind von dir, sagte sie.
Ich fühle mich geehrt, sagte er, komm.
8
Frau Lotte rief an. Das war noch nicht alarmierend, weil Erewein Anrufe, die er für nötig hielt, von Frau Lotte erledigen ließ. Auch ihre Stimme war wie immer und paßte deshalb nicht zu dem, was sie sagte. Ein Unglück, sagte sie. Es sei alles schon vorbei. Karl solle jetzt einmal herüberkommen. Er konnte nur sagen: Ja.
Erewein war tot. Das hatte sie nicht aussprechen müssen.
Er ließ das Taxi auf dem Wiener Platz halten. Sich von der Steinstraße allmählich in Haidhausen aufnehmen zu lassen, fand er heute wichtiger als je zuvor. Daß Erewein und Lotte in dem Teil der Steinstraße wohnten, der es dazu gebracht hat, Fußgängerzone zu werden, tat ihm jetzt gut. Die Straße führt am Genoveva-Schauer-Platz entlang, man sieht, sobald man den Platz erreicht, hinüber zu Ereweins barock ummaltem Schaufenster. Heute häuften sich unter dem kleinen Schaufenster Blumen. In der Steinstraße gab es keine Schaufensterödnis wie in der Brienner Straße. Auch auf der mit Kupferblech belegten Fensterbank Blumen. Sträuße und einzelne Blumen, deutlich geordnet. Frau Meschenmoser, dachte Karl. Im Schaufenster immer noch das Bild mit den von hart gleißenden Blättern bewachten Maiglöckchen. Das schräg einfallende Licht sorgte wieder für einen unheimlichen Glanz. Karl hörte, schon bevor er im Flur war, die Orgel. Alle Töne, die angeschlagen wurden, wollten bleiben. Dehnten sich. Mußten aber doch verlassen werden. Dann wieder ein verwirkter Akkord, dann hohe, flüchtige Einzeltöne, die nirgendwohin fanden.
In Schwarz erschien Frau Meschenmoser. Sie winkte ihn in Ereweins Arbeitszimmer. Da stand mitten im Zimmer auf einem Brett, das quer über den Billard-Tisch gelegt war, eine Urne. Die Urne. Der Billard-Tisch war Ereweins letztes Werk. Täglich hat er seine Karambolage gespielt. Als Karl einmal gestaunt hatte über dieses Alleinspielen, hatte Erewein gesagt: Man kann sich auch selber besiegen.
Links und rechts von der Urne je drei Kerzen. Brennende. Dann lag da noch eine flache, verschnürte Schachtel. Auf der Schachtel eine Pistole. Die Pistole. Und ein kleines rotes Buch.
Frau Meschenmoser flüsterte Karl ins Ohr: Sie hört gar nicht mehr auf.
Drei Jahre hat Erewein an dieser Orgel gebaut, dachte er.
Frau Meschenmoser lenkte Karl durch sanfte Gesten zur Urne hin, deutete auf die Schachtel, auf die Pistole und auf das Buch und sagte: Für Sie. Der Herr Doktor habe ihr das im Brief aufgetragen. Die Schachtel, die Pistole und das Buch seien seinem Bruder zu geben. Sie versenkte alles in eine Plastiktüte, die hielt sie Karl hin. Dann nickte sie und ging.
Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie Frau Lotte mitgeteilt hätte, daß der Bruder des Herrn Doktor da sei. Er ging so langsam wie möglich in Frau Lottes Zimmer, trat hinter die Spielende und hoffte, sie werde irgendwann bemerken, daß jemand hinter ihr stehe. Wohin mit der Plastiktüte? Noch einmal in den Flur. Und wieder zurück zur Orgelspielerin. Sie trug immer weite, dunkle Blusen. Ihre Haare kämmte sie immer nach hinten und ließ sie dort in einem den Rücken hinunterfallenden, starr wirkenden Zopf enden. Sie sah gern aus wie aus der Vergangenheit, ohne daß man hätte sagen können, aus welcher.
Als Erewein sein Atelier noch in einem der vier Zimmer der Wohnung hatte, stellte sich heraus, daß Frau Lotte nicht alle Arbeitsgeräusche Ereweins gleich gut ertragen konnte. Hämmern und Sägen hat sie nicht nur ertragen, sondern genossen. Aber Bohren ging ihr auf die Nerven. Zum Glück haben die Häuser in der Steinstraße ins Grüne reichende Hinterhöfe. Erewein baute sich dort seine Atelierwerkstatt unter die hohen Bäume.
Frau Lottes Orgelspiel war auch eine Art Mitteilung. Sie sagte ihm durch ihr Spiel alles, was sie ihm sagen konnte.
Karl ging.
In seinem Zimmer legte er die Pistole in die unterste Schreibtischschublade. Zu Streichholzschachteln und Zigarettenspitzen aus seiner Raucherzeit, zu Tintengläsern, in denen die Tinte vertrocknet war, zu unbrauchbar gewordenen Klebestreifen. Alles Zeug, das längst weggeworfen gehört hätte. Da paßte sie hin.
Er löste die Verschnürung der Schachtel. Dann las er.
Lieber Karl,
zu dem, was bevorsteht, gibt es kein Verhältnis. Also kann ich nichts falsch machen. Auch nichts richtig machen. Nur daß Du weißt, wie es soweit gekommen ist.
Was ich schon vor längerer Zeit über unseren Großvater notiert habe, lege ich dazu. Das bin ich Dir immer noch schuldig. Dir und Fanny und Tanja und Sonja. Ich bin Onkel und Großonkel. Es ist eine Pflicht.
Zuerst mein Fall.