Ich konnte nachts nie allein sein. Ich weiß nicht, warum. Es hat immer jemand in der Nähe sein müssen. Am liebsten im gleichen Zimmer. Die Vorstellung, daß niemand da wäre, durfte ich nicht zulassen. Ich glaubte, ich würde, wenn niemand da wäre, schreien.
Als Lotte in die Klinik mußte, bin ich einfach mitgegangen. Die sind fortschrittlich dort. Nußbaumer Straße.
Zehn Tage Vorbereitung auf die Operation. In die Intensivstation, achtundvierzig Stunden, würde ich nicht mitdürfen. Ich habe es der Oberärztin sagen können. Daß Du es gleich weißt: Sie heißt Márfa, sie ist neunundvierzig Jahre alt, und immer wenn Lotte beim Röntgen war, hat sie hereingeschaut. Das war nicht nötig. Tagsüber kann ich allein sein, will ich allein sein. Sie hat gelächelt, als ich fragte, wie sich das organisieren lasse, Lotte auf der Intensivstation, zwei Nächte lang. Sie hat gesagt, sie werde das organisieren. Ich kann Dir ihre Augen nicht beschreiben. In einem Gesicht aus flachen Bögen. Auch die Augenhöhlen flach. Sie hat bei unserem Vetter Gero studiert. Ja, in Göttingen. Frag ihn nach Márfa. Márfa genügt, hat sie gesagt. Zu mir hat sie gesagt: Sprich meinen Namen aus. Hab ich getan. Sie ist dann gekommen, hat sich ans Bett gesetzt, wir haben geredet, bis es hell geworden ist, dann ist sie gegangen, vorher hat sie mich noch auf die Stirn geküßt. Ganz leicht. Wenn sie lächelte, lösten sich ihre Lippen voneinander. Eine Art Zeitlupenvorgang.
Vielleicht ist das ein russischer Zauber. Ich brauche Ausreden. Auch wenn ich Dir ihre Augen beschreiben könnte, wüßtest Du nichts von ihrem Blick. Steppe, Großstadt, Nacht, Nacht ohne Sterne. Lotte und ich waren immer ein zusammengepreßtes Paar. Die Distanz, die zur Betrachtung nötig ist, fehlte. Weil ich weiß, wohin dieses Schreiben führt, höre ich auf, wenn ich begreiflich werde. Ich muß unbegreiflich bleiben. Auch mir selber. Márfa neunundvierzig, ich neunundsiebzig. Gerade noch neunundsiebzig. Achtzig will ich nicht sein. Nicht unter solchen Umständen. Wenn Lotte das ahnte, das erführe, das wüßte … Sie würde sich so aufführen, daß die Leute vor ihr davonrennen würden. Ich habe Lotte nie betrügen müssen. Márfa ist aus Sebastopol. Ich war einen Monat lang in Sebastopol beziehungsweise vor Sebastopol. Wir haben Sebastopol belagert, kaputtgeschossen, eingenommen, dann natürlich wieder verloren. Lotte hat nicht achtundvierzig, sondern zweiundsiebzig Stunden auf der Intensivstation bleiben müssen. Sie war in Lebensgefahr. Und ob die Operation dauerhaft hilft, hat man nicht gewußt. Márfa und ich haben in der zweiten Nacht und in der dritten geschlafen, miteinander.
Als wir in die Steinstraße zurückgekommen sind, habe ich gemerkt, daß nichts möglich ist. Ich habe Lotte geschrieben, daß ich nicht aufzählen kann, womit ich nicht fertig werde. Ich habe Márfa geschrieben. Vom Mai 45 weiß sie nichts. Auch unter den günstigsten Umständen könnte ich ihr nicht sagen, was ich im Mai 45 getan habe. Zum Überlegen blieb keine Zeit. Meine Leute haben mich wegziehen müssen.
Lieber Karl, ich weiß, wie unangenehm Dir Beerdigungen sind. Je mehr Du mit einem Menschen zu tun hattest, um so unangenehmer war Dir immer die Beerdigung. Ich stimme Dir zu. So sind wir eben. Es ist ein Segen, daß man an der eigenen Beerdigung nicht teilnehmen muß. Lotte wird viel Zeit an der Orgel verbringen. Die Bestrahlungen werden, sagt der Professor, erfolgreich sein. Deinem Freund Diego mußt Du nichts erzählen. Ich weiß, er ist Dein bester Freund. Ich habe das nicht verstehen müssen. Mit wem ein uns Nahestehender befreundet ist, muß man genausowenig verstehen wie, mit wem jemand verheiratet ist.
Es mag sich ausgewirkt haben, daß Diego mich nie wahrgenommen hat. Er hat mich beschäftigt, bezahlt, gelobt, aber er hat mich nicht wahrgenommen. Nie vergeß ich unser Mittagessen im Neuner. Du, Diego und ich. Wir hatten gerade den letzten Katalog der Dinge herausgebracht. Lebhafte Nachfrage. Sozusagen Erfolg. Er hat während des ganzen Essens kein einziges Mal einen Satz an mich gerichtet. Immer an Dich. Geredet hat fast ausschließlich er. Glaub mir, das ist nicht vorwurfsvoll gemeint. Ich habe ihn nicht interessiert. Er war nicht der einzige, den ich nicht interessiert habe. Frau Meschenmoser dagegen vibriert vor Neugier auf alles, was ich mache. Dein Diego hatte ziemlich schnell ziemlich viel Geld. Geld macht ehrlich. Er konnte es ungeniert deutlich werden lassen, daß er sich nicht für mich interessiert. Das ist unvermeidlich, daß Du Dich, wenn Du es Dir leisten kannst, gehenläßt. Als ich damals aus dem Neuner zurückkam zu Frau Lotte, war ich erregt. Wie ich zu allen stehe, habe ich gesagt, käme erst heraus, wenn ich genug Geld hätte. Solange ich nicht genug Geld habe, habe ich gesagt, kann keiner sagen, er wisse schon, wie ich zu ihm stehe. Wenn ich erst genug Geld haben werde, habe ich gesagt, werdet ihr mich kennenlernen. Frau Lotte hat gelacht. Ich auch. Ihr zuliebe. Ich bin mir vorgekommen wie ein Diego-Imitat. Damit Du, lieber Bruder, nicht glaubst, ich sei nichts als beleidigt, muß ich Dir eine Beobachtung mitteilen, deren, sagen wir, Richtigkeit Du, bitte, an Deinen eigenen Beobachtungen messen kannst. Das heißt, deren Unrichtigkeit Du jederzeit durch Deine eigenen Beobachtungen beweisen kannst. Es geht immer noch um Diego.
Nach dem Loire-Schloß-Coup, also als er dann reich geworden war, erstarrte seine Mundpartie zusehends, sie gefror. Das war, bitte, mein Eindruck. Der Mund war jetzt eine Wucht, eine pathetische Wucht. Immer begleitet und verstärkt von einem ebenso massiven Pathosblick. Insgesamt eine Dauerdrohgrimasse. Vorher war er doch öfter lustig, manchmal sogar herzlich gewesen. Sogar zu mir.
Daraus schließe ich: Reich sein macht häßlich. Das ist keine moralische, sondern eine ästhetische Erfahrung. Und daß Reichsein unanständig ist, ist auch eine ästhetische Erfahrung. Unanständiges kann vielleicht schön sein. Reichsein gehört nicht zum schönen Unanständigen, sondern zum häßlichen. Reichsein platzt andauernd aus allen Nähten. Sein Zuvielhaben dringt dem Reichen andauernd aus allen Poren. Und aus jedem Wort. Als Diego reich geworden war, kam aus seinem erfrorenen Mund kein Wort so häufig wie das Wort Brüderlichkeit. Der ehedem sportlich Freche und manchmal herzlich Kühne hatte nichts dagegen, finster pastoral zu werden. Er drohte denen, die sich weigerten, in der Brüderlichkeit das globale Heil zu erkennen. Es war, es mußte sein, das ungeheuer angeschwollene Selbstgefühl, das ihn jetzt bedrängte. Er erlebte andauernd nur noch, daß er im Recht war. Mehr im Recht als jeder andere, den er kannte. Das war die Wirkung seines Reichseins. Sein Reichsein erlebte er dann nicht mehr als Reichsein, sondern als Erfolg. Und sein Erfolg kam nicht von seinem Reichsein, sondern von ihm selbst. Das heißt, sein Rechthaben war nicht mehr zurückzuführen auf seinen Erfolg oder auf sein Reichsein, sondern ganz allein auf ihn selbst. Er, er, er selbst war im Recht. Er war das ungeheure Selbst. Das Selbst aller Selbste. Er war das Selbst selbst. Und daß ihr alle um ihn herumsitzt und ihn feiert und verehrt, gibt ihm recht. Das ist der Feudalismus von heute.
Seit mindestens zweitausend Jahren wird die Geisteskraft der Besten verbraucht zur Propagierung dessen, was wir nicht sind, aber sein sollen, dieses Lügengewebe soll uns uns selber bis zur Unfühlbarkeit entfremden. Beispiel Calvin: … reich sind wir, sofern wir dienen können und andere uns brauchen … Das ist Dein Diego, der Propagandist der Brüderlichkeit.
Verzeih mir, lieber Karl, das habe ich nicht gewollt. Du kennst Deinen Diego. Ich kenne meinen beziehungsweise keinen Diego. Es gibt keinen Diego. Es gibt nur Menschen. Und die sind so. Jetzt kann ich einen Satz nicht zurückhalten, einen Satz, dessen Richtigkeit ich zum Glück durch nichts beweisen kann, einen Satz, den ich nur Dir, lieber Karl, sagen kann, verzeih. Der Satz heißt: Reichsein macht böse. Vergiß es. Reichsein ist böse. Vergiß, vergiß, vergiß. Bedenk, ich bin am Ende.
Aber den Vorfahr, unseren Großvater, den wilhelminischen Beamten, den bin ich Dir noch schuldig. Als ich mich wegen unserer Herkunft mit Wilhelm II. beschäftigte, ist mir öfter Diego eingefallen. Und von Wilhelm zwei zu seinem Vetter Ludwig zwei ist es nicht weit. Daß Diegos Ironien über seine eigene Hofhaltung in seinem Neuschwansteinchen nicht ernst zu nehmen sind, darfst Du Dir als Freund nicht gestehen. Eine Frau, die Ludwig und Wilhelm erlebt hat, war von der Ähnlichkeit der beiden «schmerzlich berührt», «dieselbe einstudierte Pose des Kopfes», dieselbe «affektierte Würde», aber das Bemerkenswerte, das auf uns Anwendbare: Keiner und keine hat dem Ludwig oder dem Wilhelm gesagt, wie komisch das wirkte. Und das geblendete Volk seufzte im Chor: Jeder Zoll ein König. Mit welcher Lust beide ihre Diener gequält haben, ist bekannt. Und ich habe erfahren, wie bedrohlich finster Diego werden kann, wenn man einen Vorschlag von ihm nicht für ausgezeichnet hält. Wie er einen da anschaut, wäre zu Ludwigs und Wilhelms Zeiten einer Verbannung vom Hof gleichgekommen. Ludwig befahl, seinen Finanzminister zu blenden, weil der sich weigerte, ihm weitere zwanzig Millionen für sein Neuschwanstein zu bewilligen. Bekanntlich wollte er Richard Wagner zu seinem Finanzminister machen. Ich schweife aus, nicht ab. In unserer Gegenwart lebt viel mehr ungenierte Vergangenheit, als wir wissen, weil wir von der Vergangenheit keine Ahnung mehr haben. Vielleicht bin ich eifersüchtig, weil Diego Dich nicht nur wahr-, sondern eingenommen hat.