Gestern bin ich noch einmal im Englischen Garten herumgetorkelt. Ich habe vielleicht dem Schicksal eine Chance geben wollen. Eine Frau in meinem Alter, die gemerkt hat, was mit mir los ist, hat sich neben mich gestellt und hat, ohne mich anzuschauen, gesagt: Wissen S’, die Jahre vor achtzig sind die schönsten. Jetzt isses nix mehr. Der Mo tot. Hören tut man nimmer gscheit. Schlofn is a nix mehr. Aber bis achtzig war das Leben schön.
Lieber Karl, Du findest hier Papiere, auf denen ich festgehalten habe, was über unseren Großvater herauszubringen war. Viel ist es nicht. Die DDR hat gründlich aufgeräumt mit der Geschichte, die die unsere war. Es ist Wichtigeres zerstört worden. Sebastopol zum Beispiel. Aber selbst wenn ich mit Márfa leben dürfte, es wäre für sie nichts mehr wert. Ich wäre für sie nichts mehr wert. Zum Glück habe ich vor zwanzig Jahren die Pistole in Wolfersreut wieder geholt. Der Bauer lebte noch. Die Pistole hat er gut behandelt.
Ich liebe Dich, lieber Karl, auf eine unausdrückbare Weise. Du warst immer das Nächste, was ich hatte. Nur Dir kann ich sagen, Márfa sieht aus wie eine Blume, die auf dürrem Boden gewachsen ist und das ganz vergessen läßt. Ich kann nicht aufhören, von ihr zu reden. Und muß, um von ihr reden zu können, durch die ganze Welt hindurchreden, die im Weg steht. Ich bin mit Lotte verheiratet. Jedes Wort über Márfa ist ein Stich in Lottes Herz. Márfa ist mein Leben, darum ist sie mein Tod. Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Möchte fort sein von mir und lasse mich nicht gehen. Ich hänge an mir. Ich habe nicht nur eine Orgel gebaut, sondern auch Uhren. Für Kirchtürme sogar. Und träumte vorgestern nacht, daß ich nach einer Uhr greife, habe sie in der Hand, spüre, daß sie nicht mehr fest ist, also Vorsicht, es darf sich in ihr nichts verschieben, sonst bring ich sie nicht mehr zum Gehen, und das muß ich, aber so vorsichtig ich bin, gleich verschieben sich Teile gegeneinander, gleich ist die Uhr ein Haufen Teilchen, und eine zweite dieser Art werde ich nicht kriegen. Ich bin aber im Meer geschwommen und hatte die Uhr am Handgelenk. Darum ist sie jetzt aufgeweicht und kaputt. Und eine Frau schält sich am Strand aus dem Sand, sieht eckig aus, ihr Gesicht aber, sobald ich ihr von der Nähe ins Gesicht schaue, ihr Gesicht ist eine Steppe im Morgenlicht. Verzeih. Wir finden eine beige Decke. Jetzt schon in einem Zimmer. Da kommt ein Mann, der schiebt eine Hand unter sie, und sofort steht sie auf, sehr eng aneinander gehen sie davon. Und sprechen Russisch. Ich suche im Hotel ein Zimmer für Lotte und für mich. Es ist ein kleines Bett. Wir müssen uns eng aneinander pressen. Um uns herum stehen Figuren aus Gips, Trachtenträger aus Gips. Auf den Köpfen hohe Hut-Aufbauten aus Gips. Eine riesige Frau nähert sich. Ich ihr entgegen. Sie: Frau Bürgermeister will mit Ihnen tanzen. Dreht sich ein bißchen, hinter ihr, klein, fast winzig Márfa. Ich kann nicht tanzen mit ihr, sie ist zu klein. Dann reißt mich die Riesin mit sich fort und schleudert mich herum.
Die Utopie aller Utopien: Von uns sollte nichts bleiben als was wir träumten. Ungedeutet. Unsere Träume sind unser Deutlichstes. Mein letzter Traum, gestern nacht: Mein 80. Geburtstag steht bevor. Eingeladen habe ich Dostojewskij, Hölderlin, Bruckner, Karl May, Nietzsche, Bismarck, Franz Kafka und Sylvia Plath. Franz Kafka hat abgesagt, Sylvia Plath hat weder zu- noch abgesagt. Ich sah einem harmonischen Fest entgegen. Das Fest stand bevor. Kam aber nicht näher. Ein stehengebliebener Film. Atemlos.
Ich weiß, lieber Karl, alle haben mein Bestes gewollt.
Auch Diego. Entschuldige mich bei ihm. Mir bleibt für die Abendstunde der Blick auf die Bäume. Eine jenseitsfreie Welt. Ich könnte noch mit Asien telefonieren. Besuch wünschen aus Tokio. Heilsamen Besuch. Die Höflichkeit des Buddhismus, verglichen mit dem aggressiven Wahn unserer aufklärerischen Soziologen. Ich entschuldige mich, lieber Karl. Mir sind die Aggressiven so nah wie die Friedlichen. Ich bin weit weg. Also ist alles gleich nah. Daß ich das Auto verschenkt habe an den jungen Meschenmoser, war Dir nicht verständlich, weil der junge Meschenmoser Dir ein-, zweimal frech gekommen ist. Er ist Oberkellner, lieber Karl, davon muß er sich in der Freizeit erholen. Aber warum kein Auto mehr? Das muß ich Dir noch hinterlassen, weil es zur Spur gehört, die sich durch das Dasein zieht, das ich mein Dasein nennen soll. Ich mit meinem Volvo auf der Autobahn nach Bayreuth. Hölzer zu holen für die Orgel. Da winkten drei so heftig, daß ich rechts ranfahren mußte. Drei Burschen. Sie wollten mitgenommen werden. Das sagte einer zum Fenster herein. Die zwei anderen hatten schon den Kofferraum aufgemacht. Das sah nicht gut aus. Also geb ich Gas und fahr ab. Allerdings mit einem Ruck. Ich komm in Bayreuth an, mach den Kofferraum auf, da liegt blutig eine abgerissene Hand drin. Ich zur Polizei, melde alles, die nehmen die Hand, schreiben alles auf. Nie mehr etwas gehört. Aber an einem Finger dieser Hand war ein Ring.
Lieber Karl, leben können ist eine besondere Fähigkeit. Ich habe nichts auszusetzen an irgendwas oder irgendwem. Wenn ich etwas nicht für richtig halte, fällt mir sofort auf, daß ich nicht weiß, wie man es besser machen könnte. Ich möchte nie mehr jemandem widersprechen. Sich Schreie leihen bei den Gequälten, weil man selber nicht mehr zu schreien wagt. Es fehlt das Recht. Ich bin schon zu ausgeräumt. Ich muß anderen mehr zustimmen als sie mir. Das ist eine Erfahrung.
Ich weiß, daß Du mich für einen Verlierer hältst. Für einen, der unterlegen ist. Für einen Besiegten also.
Márfa hat gesagt: Wir brauchen niemanden. Sie und ich. Sie hat keine Ahnung von Frau Lotte. Eine solche Altehe wehrt sich nicht, glaubt sie. Sie hat gesagt: Wir ziehen in die Gegend von Tbilissi. Du wirst einhundertneunzehn. Dafür sorge ich. Ihr Großvater war Georgier. Sie ist eine gute Ärztin. Sie kann von Lotte wegdenken. Du mußt in den Osten denken, sagt sie. Laß den Westen zurück. Vielleicht ist sie auch nur wahnsinnig. Genau wie ich. Wer liebt, muß wahnsinnig sein. Lotte ist das Gesetz, und das Gesetz ist Lotte, und es gibt nichts außer Lotte. Außer Lotte ist alles Wahn. Aber Lotte ist …
Ich bin besiegt. Immer schon gewesen. Die Sieger haben es ermöglicht, daß der Verlierer ein guter Verlierer sein kann. Er lernt, sich so zu benehmen, daß die Sieger im Genuß ihres Sieges nicht gestört werden. Er hat durch sein Benehmen zu demonstrieren, daß ihm recht geschehen ist. Jeder weiß, wohin er gehört. Der Verfolgungswahn des Verlierers verhilft dem Lorbeer des Siegers zu seinem Immergrün. Der Verfolgungswahn des Verlierers beweist, daß dieser Verlierer ein entsetzlicher Kerl ist. Überall sieht er Verfolger, Unterdrücker, Herrschaft. Er hält sich natürlich für so gut wie die Clique, die sich jeweils in der vollen Gunst der Geschichte räkelt. Eingebaut in die historische Funktion der jeweiligen Clique ist der Schlag, der ihm zu versetzen ist, sobald er sich rührt. Also lernt er, sich nicht mehr zu rühren. Dann ist ihm ein Glück beschieden, das Weltreisen nicht ausschließt.