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Lotte und ich sind aufgenommen in diese Gesetzesmaschine. Márfa hätte diesen weltherrschaftlichen Opportunismusautomaten zerlacht. Die Blume, gewachsen auf dürrem Boden, und das läßt sie vergessen.

Lieber Karl, nur Du weißt, wie es war, wenn es im Winter geregnet hat, im Flur dann die nassen Mäntel, wie die rochen, im Flur, die nassen Mäntel, wenn es geregnet hat, im Winter, Karl. Als Fische geboren und sterben als Vögel. Als Geborstene ragen wir in die Welt.

Abschied. Klingt süß. Müßte ein Wort sein wie ein Hieb. Unglück macht trivial. Meine Leute mußten mich wegziehen. Angesichts der Vernichtung gibt es nichts Falsches. Außer dem Leben. Sogar ohne daß ich Dir etwas gesagt habe, hast Du mich immer verstanden. Das glaube ich.

Leb wohl.

Dich grüßt immer

Erewein

Karl las weiter.

Über unseren Großvater.

Am 24. Oktober 1899 wurde der Sang an Aegir an der königlichen Oper in Berlin uraufgeführt. Es war eine Matinee. Die Majestäten, Kaiser Wilhelm und Auguste Viktoria, waren anwesend. Wilhelm wurde gefeiert. Als Komponist. Der Sang an Aegir galt sofort als sein Meisterstück. Bei den Majestäten saßen auch der Fürst und die Fürstin zu Wied. Der Fürst, noch nicht sechzig, aber silberhaarig, Bruder der Königin von Rumänien, Onkel der Königin von Holland, erhob sich jedesmal, wenn der Beifall anschwoll, von seinem Sitz und verbeugte sich vor seinem Neffen Wilhelm. Und so oft er sich erhob und sich verneigte, Wilhelm nahm es jedesmal gnädig entgegen.

Wilhelms Schwester, die Prinzessin von Meiningen, wollte vom Grafen Moltke, dem Adjutanten des Kaisers, wissen, wer dem Kaiser geholfen habe, diesen fürchterlichen Sang an Aegir zu komponieren. Es ist überliefert, daß Graf Moltke geantwortet hat, das sei ein Staatsgeheimnis. Als sie sich damit nicht zufriedengab, sagte Moltke klipp und klar: Seine Majestät hat das Lied komponiert.

Ob gute oder schlechte Musik, unser Großvater Friedrich Karl hat an der Komposition des Sangs an Aegir zumindest mitgewirkt. Erstaunlich ist, daß es dem Kaiser erst im Jahr 1899 gelang, seine Komposition in Berlin zur Uraufführung zu bringen. Schon im September 1897 erhielt die Musiklehrerin Hedwig Jaede in Stettin drei Monate Gefängnis, weil sie im Jahr 1894 den Sang an Aegir schlechtes Zeug genannt hatte. Fräulein Jaede richtete ein Gnadengesuch an die Kaiserin, die wagte nicht, den Kaiser damit zu behelligen, weil sie wußte, wie empfindlich er war, wenn er als schaffender Künstler kritisiert wurde. Immerhin versicherte ihm eine hofnahe Presse, daß die Hohenzollern in jeder Generation Talente, wenn nicht Genies vorzuweisen hätten. Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler. Was Fräulein Jaede gesagt hatte, fiel unter Majestätsbeleidigung.

Dieses Vergehen verjährte erst nach fünf Jahren. Fünf Jahre lang konnte jeder einen anzeigen, der etwas gesagt oder geschrieben hatte, was den Kaiser beleidigte. Die Kaiserin gab das Gnadengesuch der Musiklehrerin an Herrn von Levetzow, der schon Präsident des Reichstags gewesen war. Der fragte den Kaiser, ob Majestätsbeleidigungen nicht doch zu streng bestraft würden. Der Kaiser: Sobald er den richtigen Mann für den Kanzlerposten finde, müsse der ein Gesetz einbringen, das die Strafen für derartige Verräter verdoppelt. Von Levetzow wechselte das Thema. Den Sang an Aegir hat es also schon 1894 gegeben.

Bezeugt ist, daß der Kaiser im Mai 1894, begleitet vom Grafen Goertz, im Eulenburgschen Schloß Liebenberg die Salzwedeler Ulanen dirigierte. Die Militärkapelle spielte, und der Kaiser dirigierte, während die Gäste dinierten. Er dirigierte nicht nur den Marsch aus Aida und den Hohenfriedberger, sondern auch den Reitermarsch des Grafen von Moltke und seinen Sang an Aegir.

Der Großvater Kahn war schon zwei Wochen davor auf das Schloß Liebenberg befohlen worden, er mußte die Militärkapelle so trainieren, daß beim kaiserlichen Dirigat nichts passieren konnte.

Wie kam die Komposition zustande? Unser Großvater Friedrich Karl Kahn war Musiklehrer in Potsdam am Gymnasium und wohnte in einem Haus, in dem auch ein Kaiserlicher Kammerdiener wohnte. Friedrich Quentz hieß er. Der wurde wohl Zeuge, wie Seine Majestät am Klavier klimperte. Immer ohne Noten. Und nur mit einer Hand. Seine Linke war zurückgeblieben, war eine Kinderhand geblieben. Der Kaiser versuchte, das nicht merken zu lassen. Alle wußten es. Die einen schlossen sich der Erklärung an, die die Hebamme gab: Ein Nervenleiden der sehr jungen Mutter sei schuld. Die anderen machten die Hebamme für den Schaden verantwortlich. Die Hebamme hat den Frischgeborenen, der keinen Laut von sich gab, nach alter Hebammensitte mit einem nassen Handtuch geschlagen, bis er schrie; dabei habe sie das Ellbogengelenk ausgerenkt.

Der Kammerdiener Quentz machte eine Bemerkung. Er kenne, sagte er, einen hochbegabten Musiker, dem es eine Ehre wäre, Seiner Majestät Talent zu entfalten. So kam der Vorfahr ins Neue Palais. Was er dort erlebte, erzählte er daheim und in den Briefen an seine Schwester Mathilde, in Potsdam geboren, in Stuttgart verheiratet und süchtig nach Berliner Hofklatsch, wenn darin nur der von ihr verehrte Kaiser vorkam. Die Entstehung des Sangs an Aegir hat Friedrich Karl seiner Schwester in mehreren Briefen geschildert. Die Briefe haben sich bei den Nachkommen der Großtante Mathilde erhalten. Danach läßt sich sagen: Der Kaiser war dem Meer verfallen. Den Künstler Saltzmann ließ er das Meer wieder und wieder skizzieren und vollendete die Bilder und hielt sie für eigene und signierte sie. Aufführungen des Fliegenden Holländers besuchte der Kaiser nur in Admirals-Uniform.

Der Kaiser suchte auf dem Klavier eine Melodie zu finden, um die Geschichte des Seegotts Aegir zu erzählen. Aegir hatte seinen Sitz auf Læsø im Kattegat. Neun Wellenmädchen waren seine Kinder. Als der Gott Loki einmal Aegir besuchte, geriet er mit den neun Wellenmädchen in einen Streit, den er nicht überlebte.

Der Vorfahr schilderte der Tante, wie er mit der endgültigen Fixierung der auf dem Klavier gemeinsam ertasteten Melodie beauftragt wurde. Und zwar schilderte er, daß Auguste Viktoria wissen wollte, wie dieses Werk entstanden sei. Und er: Mit Eurer Majestät Erlaubnis wage ich daran zu erinnern, daß das feinste Gehör von uns allen Seiner Majestät eigen ist. Und wenn Eure Majestät mich nicht verraten, so fiel mir als untertänigstem Diener die Ehre zu, die allerhöchste Komposition aufzuzeichnen. Bei der Ausarbeitung des Notierten habe er sich durchaus inspiriert gefühlt von des Grafen Eulenburg Legende des Nordens und von den strömenden Tönen Edvard Griegs, den Seine Majestät ja auf seiner letzten Nordlandreise kennen- und schätzengelernt habe.

So weit war der Vorfahr im Jahr 1894. Dann infizierte er den Grafen Eulenburg, den engsten Freund des Kaisers, mit einer Idee. Eulenburg hatte dafür zu sorgen, daß es dem Kaiser nie langweilig wurde. In einem Schreiben eröffnete Friedrich Karl dem Grafen, daß der größte Maler der Epoche, Adolph Menzel, im Juni 1895 achtzig werde. Dieser geniale Künstler sei, als er im Schloß Sanssouci Skizzen gemacht habe für sein Bild, das das Flötenkonzert Friedrichs des Großen darstellt, vom damaligen Hofmarschall Friedrich Wilhelm IV., dem inzwischen verstorbenen Grafen Keller, miserabel behandelt worden. Menzel habe darum gebeten, das Musikzimmer Friedrichs des Großen so beleuchtet zu sehen, wie es beleuchtet war, als der König darin musizierte. In den zeitgenössischen Schilderungen ist überliefert, daß ein einziger Lüster, mit Kerzen bestückt, von der Decke hing. Diese Kerzen wollte der Künstler angezündet sehen. Abgelehnt. Er hat dann gemalt, was ihm verwehrt wurde. Der Flöte spielende König im Lüsterglanz, der auch noch vom spiegelnden Boden verstärkt wird. Man würdigte den Künstler keiner Antwort. Die Räume des Schlosses waren ihm nur zugänglich gewesen wie jedem zahlenden Besucher. Er mußte das Material zu seinen Skizzen in Museen und Archiven zusammensuchen. Wäre es da nicht angebracht, jenes Flötenkonzert-Bild in den Originalräumen zu inszenieren und dazu den Künstler zu seinem Achtzigsten einzuladen? Eulenburg spurte. Der Kaiser auch: Ich werde, was Preußen Menzel schuldet, bezahlen. Und tat’s. Das Gemälde wurde genau nachgestellt, der Cellist, der Geiger und am Spinett der Vorfahr selber in Maske und Kostüm Carl Philipp Emanuel Bachs, der große Friedrich, dargestellt von einem schönen jungen Musiker, Ihre Majestät als Prinzessin Amalia, Seine Majestät in der Kürassieruniform aus der Zeit Friedrichs des Großen als Generaladjutant Baron von Lentulus. Als der achtzigjährige Künstler, der nicht wußte, wozu er geladen war, zwischen den Riesengrenadieren in den historischen blauen und roten Uniformen auf das Schloß zuging, als er die langen weißen Gamaschen sah, die bis über die Knie reichten, und die vergoldeten Helme aus Blech auf den gepuderten Perücken, da wußte er, was hier gespielt wurde. Im Vestibül wurde der Künstler erwartet vom Generaladjutanten Baron von Lentulus, in dem er wohl den Kaiser erkannte. Jetzt spielte er seinerseits mit. Ich habe die Ehre, den Generaladjutanten Baron von Lentulus vor mir zu sehen. Und bat ihn, er möge Seiner Majestät, dem König, den untertänigsten Dank für diese unerwartete Ehrung überbringen. Dann wurde musiziert wie damals. Der Vorfahr durfte das Klavierkonzert des Prinzen Ludwig Ferdinand von Preußen spielen, und zuletzt überbot der Geigenvirtuose Joachim alles mit Johann Sebastian Bach.