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Karl von Kahn blieb stehen, schaute fragend.

Ja, ihre Schwester habe angerufen, weinend, weil Miriam sich neuerdings weigere, in den Kindergarten zu gehen.

Und, fragte Karl.

Daraus sei bei ihr entstanden, sagte Joni, daß Miriam Pocken in der Scheide habe.

Logisch, sagte Karl.

Ich wollte wissen, wie du auf so was reagierst, sagte sie.

Weil er nicht noch einmal logisch sagen konnte, sagte er: Und, wie habe ich darauf reagiert?

Schrecklich, hast du gesagt, aber du hast nicht Miriam und ihre Scheide gemeint, sondern daß mich das so mitnimmt. Das ist mir sehr einfühlbereit vorgekommen.

Stimmt, sagte er. Und fügte ein riskantes vielleicht dazu.

Als der Weg richtig steil wurde, beschleunigte Karl. Je mehr er beschleunigte, desto leichter wurde er. Wieder dieses Gefühl zu schweben. Aufwärts zu schweben. Natürlich durfte er die Beschleunigung nur so weit steigern, wie der Atem es zuließ. Aber er mußte mehr zulassen, als er wollte. Von den wulstigen, den Weg kreuzenden Wurzelsträngen federte er sich richtig hoch. Und hoffte, daß Joni jetzt bald einmal um Tempo-Ermäßigung bitte. Er würde dieses Tempo durchhalten. Erstens liebte er Joni, zweitens war er trainiert. Daß sie nicht endlich rief, sie komme nicht mehr mit, erbitterte ihn fast. Wenigstens das Reden war ihr vergangen. Dann, als sie aus dem Wald traten, vor sich die weite Wiese bis zum Ortsrand, da erlosch bei Karl die Geh-Energie. Sobald es flach dahinging, empfand er keinen Grund mehr zu gehen. Er hätte sich am liebsten in die Wiese gelegt, aber die war vom Regen noch naß. Er mußte jetzt langsam gehen. Jetzt merkte er, daß er für seine Kondition zu schnell gegangen war.

Du hast ein ganz schönes Tempo drauf, sagte Joni.

Wart’s ab, sagte er, das Finale kommt noch.

Vor dem Kirchengipfel der Abstieg fast in eine Schlucht, dann der Aufstieg zur Kirche über die vielen Stufen, die er immer schon zählen wollte und heute wieder nicht zählen konnte. Droben merkte er, daß Joni an der Kirche vorbei gleich auf die Bräustüberl-Tür zusteuerte. Es tat ihm gut, ihr das zu verwehren. Drinnen ging er ihr so voraus, daß sie folgen mußte, wies ihr einen Platz in einer Bank, den Rest überließ er dem frommen Sturm dieser Kirche. Er merkte, daß Joni sich nicht wehren konnte.

Irgendwann sagte sie ihm ins Ohr: Hier darf man nicht rauchen, das ist gut. Und wieder nach einer Weile: Wenn du mir das Rauchen abgewöhnst, heiraten wir hier.

Er nickte heftig.

Nachher, in der Wirtschaft, als sie zusammen die Schweinshax’n-Portion aßen und dazu die Gläser stemmten, er einen Liter, sie einen halben, sagte sie, daß die mitten im Goldgestrahle thronende Maria auf ihrem zarten Kopf eine gewaltige Goldkrone trage, bitte, sei’s drum, aber daß dem lieben Jesuskind auf ihrem Knie auch schon eine kopfgroße Krone aufgesetzt worden sei, komme ihr vor wie Kindsmißbrauch.

Karl sagte: Laß doch.

Und sie: Was?

Er: Alles. Weil sie immer noch kritisch schaute, sagte er mit großer Handbewegung: Hier ist alles gut. Er brach ein großes Stück von der Riesenbrezen, an der sie beide aßen, hielt es ihr hin, daß sie zubeißen mußte, und sagte: Der Unterschied zwischen Benedikt Loibl und hier ist der Unterschied zwischen einer geschminkten Frau und einer ungeschminkten.

Prosit, Karl, sagte Joni.

Prosit, Joni, sagte er. Auf Kurt.

Auf Kurt, sagte sie.

Längeres, ununterbrechbares Schweigen. Dann mußte er sagen, daß es jetzt Zeit sei, zu Hause anzurufen. Und in der Firma werde er sicher seit zwei Stunden als vermißt gemeldet.

Bitte, sagte Joni.

Karl spürte, daß er für diese zwei Gespräche nicht aufspringen und fünf Meter ins Abseits rennen durfte.

Frau Lenneweit nahm entgegen, daß er erst morgen und morgen erst gegen elf zurück sein werde. Er wunderte sich selbst darüber, daß er Frau Lenneweit das mitteilte, ohne ihr zu sagen, warum erst morgen und morgen erst um elf. Es tat ihm gut, daß er Frau Lenneweits hemmungslose Neugier, die sie als beruflichen Eifer tarnte, brutal ignorierte.

Heute nur per Handy, sagte er. Und, bitte, den heutigen Puma-Kurs auf die Mobilbox.

Joni lächelte. Sie begriff, daß Karl angeben wollte. Vor ihr. Und daß er zeigen wollte, er wisse, jetzt gebe er an. Ihretwegen.

Jetzt also Helen. Er würde, solange er mit Helen sprach, Joni anschauen. Er würde Joni dieses Gespräch zum Opfer bringen. Er konnte jetzt nichts anderes wollen, als Joni zu gefallen, sie durch alles, was er tat und sagte, von seinem Liebesernst zu überzeugen. So hat dich noch keiner geliebt. Das sollte sie ununterbrochen erleben.

Bevor er Helens Handynummer abrief, mußte er Joni noch sagen, er, als Drehbuchautor von Alles paletti, hätte die Altersunterschiede anders bestimmt. Der, der dem Siebzigjährigen Kußmäulchen abnimmt, müßte neunundsechzig sein und sich gewaltig jünger fühlen als der Siebzigjährige. Und ihm wird Kußmäulchen von einem Achtundsechzigjährigen abgenommen, der sich geradezu naturgesetzlich legitimiert fühlt, dem Neunundsechzigjährigen das Mädchen wegzunehmen. Ob Joni ihm da zustimmen könne.

Joni sagte, das wäre unsinnlich, kopflastig, konfliktlos, undramatisch. Das wäre nichts als ein Selbstgespräch in einem Altersheim.

Da zog Karl seine Version zurück. Jetzt hatte er einmal gewagt, der kulturellen Fraktion eine Idee zu offerieren, dann das!

Um so wichtiger war es, Joni vorzuführen, wie er Helen behandelte. Er wollte etwas verlangen. Von sich. Von Joni. Von Helen. Er fühlte sich Helen nichts als nah. Und Joni genauso. Auf einmal hielt er alles für möglich. Er weigert sich zu begreifen, daß jemand weniger für möglich hält als er. Er muß sich jetzt nur noch Helen verständlich machen, dann gibt es keine Schwierigkeit mehr. Keinen Streit. Er ist Helen so nah wie seit langem nicht. Und das durch Joni. Durch diese Ergriffenheit. Er ist lebendiger, als er je war. Deshalb empfindet er auch Helen heftiger als gewöhnlich. Das muß sie verstehen, dann ist alles gut. Dieser enorme Zustand darf nicht kaputtgehen an irgendeines Menschen Unfähigkeit, diesen Zustand zu begreifen. Wenn er Helen jetzt näher ist als je zuvor — und das ist er, und er ist es durch Joni — , dann kann sie doch nicht dagegen sein, daß er bei Joni ist! Er will seinen Zustand nicht herunterlügen müssen. Darum ruft er dich jetzt an, Helen, jetzt sofort.

Aber Helen war schon in der Ottostraße, um Ehepaaren, die sich auseinandergelebt hatten, einen Weg zurück zu zeigen. Das, was er jetzt zu sagen hatte, in die Mobilbox zu sprechen, wäre ihm erbärmlich vorgekommen. Also sagte er nur: Liebe Helen, bis später.

Er sah, daß Jonis Mund schon ganz klein geworden war. Er mußte ihr erklären, er habe vorgehabt, von Helen zu verlangen, daß sie ihn bei Joni sein lasse. Und zwar ohne Krach und Quatsch. Weil er nämlich noch nie von etwas so eingenommen gewesen sei wie von seiner Liebe zu Joni. Da bleibe nichts anderes übrig als die volle Einverstandenheit. Er kenne Helen gut genug, er dürfe sicher sein, daß sie die Höhe und die Stärke seines Gefühls zu ermessen wisse und daß sie, was ihm jetzt vom Leben selbst empfohlen worden sei, nicht in ordinären Eheszenen banalisieren wolle. Dieser Drang, dieser Zwang, rücksichtslos zu sein. Jenseits aller Diesseitigkeit ist gleich Berechenbarkeit ist gleich Abhängigkeit ist gleich Beherrschbarkeit.

Kein Weg ohne Rückweg, sagte er und deutete pantomimisch das Aufstehen an. Er stemmte sich hoch, ohne merken zu lassen, welche Knochen ihm jetzt weh taten. Aber immerhin, nach dem harten Hörndlweg jetzt die sanfte Partie hinab durchs schmiegsame Kienbachtal.

Der rauscht tatsächlich, sagte Joni. Das sei der erste Bach, den sie rauschen höre.