Und als Karl fragend schaute, sagte sie nachhaltig: Schiller! Don Carlos!
Ach der, sagte Karl. Und fügte hinzu: Bei mir um die Ecke steht er im Park. Friedrich von Schiller. Daß er ungebildet sei, wisse er. Das schmerze ihn weniger, als es müßte. Sein Bruder Erewein sei gebildet. Gewesen. Und habe sich umgebracht.
Obwohl er gebildet war, sagte Joni.
Es könne damit zusammenhängen, sagte Karl. Ihm selber sei Selbstmord fremd.
Du bringst lieber andere um, sagte Joni.
Daß diese vier Herren belangt werden müssen, ist sicher, sagte Karl. Er könnte natürlich auch Joni umbringen, dann könnten die vier ruhig weiterleben. Was er nicht ertrage, sei, daß Joni andauernd an alles denke, was sie mit denen gemacht habe, was die mit ihr gemacht haben.
Andauernd nicht, sagte Joni.
Erst wenn du nicht mehr daran denken kannst, ist die Peinlichkeit aus der Welt geschafft.
Also, weg mit mir, sagte Joni.
Ich bin froh, daß du mich nicht ernst nimmst, sagte Karl. Das wird mir die Ausführung dessen, was unerläßlich ist, erleichtern. Dich zu töten kann ich keinem Kriminaldienstleister überlassen, das muß ich selber tun. Und riß sie an sich, umklammerte ihren Hals mit beiden Händen und drückte ein bißchen zu.
Jetzt, sagte Joni, mußt du sagen: Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona. Und erklärte ihm, so habe Shakespeares Othello seine Desdemona gefragt, bevor er sie erwürgte.
Hast du zur Nacht gebetet, Joni Jetter, sagte Karl und drückte zu.
Erst als Joni aufschrie, ließ er los. Hatte sie nur theatralisch aufgeschrien, oder hatte sie doch eine Minisekunde lang Angst gehabt?
Komm jetzt, sagte er und zog sie weiter. Aber nicht mehr so schnell wie vorher.
Joni rief: Durch die Wälder gehen.
Karl übernahm schnelclass="underline" Keinen mehr sehen. Stehen bleiben.
Und Joni: Bei Eiben und Schlehen.
Sie schauten einander an.
Schluß jetzt, sagte Karl.
Kuß jetzt, sagte Joni.
Es folgte ein weiterer Unterricht, wie mit ihrem Mund umzugehen sei.
Aber Karl konnte nicht aufhören. Ob es Joni nicht störe, daß Strabanzer schiele.
Sie sagte, Theodor schiele nicht. Wenn er erregt sei, bleibe sein linkes Auge stehen.
Er sei aber oft erregt, sagte Karl.
Immer, sagte Joni.
Ob sie Strabanzer sage, was in der letzten Nacht passiert sei, fragte Karl.
Es ist doch nichts passiert, sagte sie und ließ ihren Mund nach links und nach rechts auswandern.
Wenn du bloß nicht so raffiniert wärst, sagte Karl.
Es wird mir nichts nützen, sagte sie.
Da waren sie an ihrem Z 3. Karl wäre gern noch eine Nacht geblieben, Joni nicht.
Morgen drehe sie in Berlin. Sein Handy und ihr Handy seien ein Paar. Bis bald, sagte sie.
Und er: Bis gleich.
Und wegkurvte sie.
Er sah ihr nach, bis er sie nicht mehr sah.
Hatte er, weil Daniela es nicht anders tat, einen Zwei-Nächte-Termin zustande kommen lassen, war er jedesmal nach der ersten Nacht schlechter Laune, weil er jetzt, anstatt heimfahren zu können zu seiner Helen, noch einmal vierundzwanzig Stunden Liebesdienst liefern mußte. Ihm hätte immer eine Nacht gereicht. Man darf Menschen nicht miteinander vergleichen. Jetzt Joni, sonst nichts. Jetzt und immer Joni. Daß sie so wegfahren konnte. Wegsprinten. Joni ist echt. Auch wenn sie ihn anlügen würde, könnte er sie nicht anders empfinden, als er sie jetzt empfand. Wenn sie ihn belog, dann aus guten Gründen. Aber sie lügt ihn nicht an. Das hat sie nicht nötig. Sie ist zum Glück rücksichtslos. Sonst hätte sie nicht so abbrausen können. Rücksichtslosigkeit ist die höchste Qualität in einer Beziehung. Wenn eine Beziehung trotz Rücksichtslosigkeit bei beiden besteht, ist es die ideale Beziehung. Das Gegenteiclass="underline" Die von beiderseitiger Rücksichtnahme und Schonung lebende Beziehung. Wenn Joni fünfundsechzig sein wird und er einhundertzwei, dann werden sie einander näher sein als jetzt. Das einzige, was gegen Joni spricht, ist, daß sie ihn liebt. Falls sie ihn liebt. Das will er erreichen, daß sie ihn liebt. Er wäre jetzt, wenn sie hätte dableiben können, bei ihr geblieben. Hier im Kronprinz Ludwig in der Kronprinzen-Suite. Die Firma wird, soweit sie ihn braucht, von Herrsching aus dirigiert. Nichts erklären. Tatsachen sprechen lassen. Aber Joni ist noch nicht soweit. Ihm schwebt ein jedes Maß hinter sich lassender Aufwand vor. Sie aus allen Gewohnheitshalterungen reißen. Sie darf noch nie so bestürmt worden sein. Sie muß vor Erregungsfreude zittern können.
Als er in der S-Bahn saß, beherrschte ihn sofort die Aussichtslosigkeit. Wohin auch immer er jetzt dachte, er begegnete der Aussichtslosigkeit. Wehr dich doch. Die Alten im Frühstücksraum. A One Issue Group, würde Dr. Dirk so etwas nennen. Sollte ihn die Aussichtlosigkeit beherrschen, bitte. Er antwortete mit dem Gefühl, unwichtig zu sein. So unwichtig, wie er war, durfte er sein, wie er wollte. Die Wichtigen stehen jeden Tag in der Zeitung. Von denen kann verlangt werden, das und das zu sein, das und das zu tun. Er gehörte nicht dazu. Also kann er tun, was er will. Seine Unwichtigkeit ist seine Freiheit. Älter werden ist schwächer werden, keine Kraft mehr haben zum Beispiel für jede Art Anstand … Er mußte sich mit ihren Männern beschäftigen. Der mit dem Motorrad tat ihm nicht weh. Hector mit — c auch nicht. Strabanzer? Von dem hatte sie keine Bettgesten geliefert. Den konnte er stornieren. Vorläufig. Joni mußte Fotos liefern. Andererseits waren ihm die Herren deutlich genug. Am deutlichsten der Museumspädagoge. Mit Frikadellen und Mumm extra dry, Geschlechtsverkehr vor Kunstdruckbänden plus Spiegel. Und bohrt Joni mit dem berühmten Mittelfinger an. Der Herr ist ein Frühkommer, klar. Wie alle Narzisse, die andere nur brauchen, um sich selber zu genießen. Wie dem schaden? Wie den beschädigen? Er konnte nicht zum Pseudo-Dostojewskij, nicht zum pausbäckigen Dreier-Visionär und nicht zum Schwamm-Schaum-Moschus-Lavendel-Fürsten wechseln, bevor er nicht wußte, wie er den Herrn der Neugier-Hände hinrichten konnte. Daß er ihn nicht hinrichten würde, wußte er auch. Trotzdem stellte sich für seinen Abrechnungswillen kein anderes Wort ein.
Der Mann ihm gegenüber las in einem Buch, dessen Seiten mit mehr Zahlen und Zeichen als Buchstaben bedeckt waren. Seine Frau rief ihn zu Hilfe. Sie kommt mit dem Kreuzworträtsel nicht weiter. Der Mann überprüfte das Kreuzworträtsel, das seine Frau zu lösen versuchte. Seine Ratschläge verrieten, daß er die Rätselfragen hätte lösen können. Er wollte aber, daß seine Frau selber auf die Lösungen komme. Offenbar ein Pädagoge. Die Frau hatte aber plötzlich keine Lust mehr auf Kreuzworträtsel. Ihr Mann las weiter, sie saß und schaute hinaus in die vorbeifliegende Welt. Karl hätte gewettet, daß sie nichts sah. Sie war erfüllt von Gedanken, von sie beherrschenden Gedanken. Diese Frau kämpfte gegen Aussichtslosigkeit. Am liebsten hätte er zu dieser Frau gesagt: Je älter man wird, desto mehr muß man lügen. Es gibt nichts mehr, was von diesem Zwang zur Lüge verschont bleibt. Das Alter, das ist der Zwang zur Lüge schlechthin. Diese Frau hatte eine Art Freudebereitschaft im Gesicht. Ihre dunklen Augen drückten Erlebnishunger aus. Ihr Mund war ein Strich der Entschlossenheit. Und dieser Mann merkte nichts. Vielleicht ein berühmter Chemiker. Wenn der Mann nicht dabeigewesen wäre, hätte er mit dieser Frau plaudern können, hätte sagen können: Sie haben vier Semester in Duisburg studiert, Englisch und Geschichte, und jetzt reicht’s nicht einmal für ein Kreuzworträtsel, das kenn ich, oh, wie ich das kenne. Ein Akademiker, der zur Tür begleitet, am Oberarm berührt und zwei Wochen später Geschlechtsverkehr vor Kunstdruckbänden, o Joni. Es ging um nicht weniger als um Jungfräulichkeit. Wenn er alles erfuhr, alles, was getan und gesagt worden war, wußte er, was noch nicht getan und gesagt worden war. Das würde er dann tun und sagen. Wenn es überhaupt noch Ungetanes, Ungesagtes gab. Ohne diese Hoffnung wollte er nicht leben.