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Karls Blick wurde angezogen von einem jungen Paar auf der übernächsten Bank. Die küßten einander so, daß es aussah, als würden sie einander trinken, einander austrinken. Offenbar ein nicht zu löschender Durst. Und auch das, was sie tranken, ging nicht aus. Sie saugten aus einander heraus, was herauszusaugen war. Sie saugten einander aus. Das hätte er gern Joni und ihrem Kußpädagogen vorgeführt. Aber da gab es auch noch zwei Alte. Klaffende Münder, hängende Bäuche, todschwer auf ihren Sitzen. Ovid soll geschrieben haben, gleich scheußlich seien alte Liebende und alte Soldaten.

Er mußte sich vorbereiten auf Helen. Er stieg schon an der Dietlindenstraße aus, um länger gehen zu können, um vom Gehen belebt zu sein, wenn er Helen gegenüberträte. Er würde nichts von dem sagen, was er hätte sagen wollen, wenn er sie telefonisch erreicht hätte. Er würde eine vollkommene Erfindung präsentieren. So vollkommen, daß Helen überhaupt keinen Grund haben würde, nachzufragen, mißtrauisch zu sein und so weiter. Perfekt. Das schwebte ihm vor: perfekt zu sein. Heimzukommen von nichts als einem Geschäft. Allerdings von einem nicht alltäglichen Geschäft. Erstens Film, zweitens zwei Millionen. Das durfte er doch in einem anderen Ton vortragen, als wenn er nur von der Kardinal-Faulhaber-Straße zurückkam und zu melden hatte, daß es Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel gelungen war, den Präsidenten der Deutschen Diabetesfuß-Gesellschaft für ihren Fuß zu interessieren, was zur Folge hatte, daß ihr nicht der Fuß, sondern nur zwei Zehen amputiert worden sind. Er wußte, mit welchen Details er eine Geschichte würzen mußte, um Helens Interesse sofort erlöschen zu lassen. Finanzierungsgeschichten langweilten sie. Je genauer er die erzählte, desto mehr mußte Helen ihr Gähnen verbergen. Darauf konnte er sich verlassen. Und wo war jetzt sein Übermut? Joni fehlte. Also fehlte sein Übermut.

Wenn er beim Lodenfrey-Haus in die Osterwaldstraße einbog, empfand er die Straße immer als besonders heimelig, weil sie von dieser Seite aus für Autos mit amtlich wirkenden Pfählen gesperrt war. Aber heute wurde die Heimeligkeit für den Eintretenden zur Prüfung. Bist du noch würdig, in dieser grün überwölbten Heimeligkeit zu wohnen? Bäume auf jeder Seite, und jeder Baum fragte: Wo kommst du her? Was hast du getan? Uns machst du nichts vor, riefen sie ihm nach. Du kannst zwar so tun, als gebe es uns nicht, aber wir sehen doch, daß du schwächer wirst mit jedem Schritt. Wahrscheinlich reicht dein vorgetäuschter Mut gar nicht bis zum Haus 106 A. Du kehrst vorher um, rennst zurück, hinaus aus der Osterwaldstraße, die ein Boulevard der Sittlichkeit ist. Keiner und keine von denen, die jetzt abendlich zurückkehren aus der Stadt, kommt mit einer solchen Scheußlichkeitslast zurück wie du. Schau, drüben der Herr Professor, der immer schon aus großer Entfernung grüßt, lachend grüßt, der kann jetzt gleich hineingleiten in die Willkommensmusik seines Hauses, seiner Frau, seiner lebensstarken Frau. Wie du bei Hertha an der offenen Ladentür vorbeikommen willst, wo die Nachbarn wie Bienen aus- und einströmen und das Gesumm des Anstands und des Einvernehmens senden und empfangen! Du störst, du bist gestört, du bist eine Katastrophe für diese Straße des friedlichen Wohnens.

Karl rannte fast. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sehe er niemanden, und sich dann selber einzubilden, unsichtbar zu sein. Die frühabendlich trauliche Osterwaldstraße war die Generalprobe für den Eintritt ins Haus. Karl grüßte und wurde gegrüßt. Aber zum Stehenbleiben und Plaudern ließ er sich nicht verführen. Ein bißchen eilig durfte er es schon haben.

Das Haus. Helens Haus. Streng und steil das Dach. Das steilste Dach in der ganzen Straße. Helens Vater hatte das so gewollt. Bloß keine Gemütlichkeit. Und gegen die Straße abgeschirmt durch gewaltige Thujen. Der Weg vom Gartentor führt nicht auf die Haustür zu. Dann sähe man ja von draußen, wenn die Haustür aufginge, gar ins Haus hinein. Das hat Herr Doktor Wieland nicht gewollt. Dieses Haus hat seine Vorderseite zur Seite hin.

Er mußte die Tür aufschließen und in der Halle so laut grüßen, daß Helen, egal wo sie gerade war, hörte, er sei da. Und sei froh, daß er da sei. Endlich wieder da. Bei seiner lieben, sanft fröhlichen Frau.

Helen stand sofort in der Tür zu ihrem Arbeitszimmer, die goldene Brille hing wie ein Schmuck auf ihrer meergrünen Bluse. Dem Pfeifenraucher Gammertinger, sagte sie, sind drei Zehen amputiert worden.

Karl hätte bald gesagt: Gratuliere. So freute ihn diese Nachricht. So willkommen war sie ihm.

Und wer ist Herr Gammertinger, fragte er.

Er wußte natürlich, Herr Gammertinger, das war der Herr, der sich täglich auf dem die Straße begleitenden Fußweg sehen ließ, der so tat, als meditiere er unter inspirierenden Bäumen gehend, der aber, wie Helen wußte, von seiner Frau hinausgeschickt wurde, damit er seine romantisch gebogene Pfeife im Freien rauche. Und Helen wußte, daß Karl das wußte, daß also die Frage, wer Herr Gammertinger sei, typisch Karl sei. Er wollte damit sagen: Wer ist schon Herr Gammertinger beziehungsweise: Was gehen mich die drei Zehen des Herrn Gammertinger an. Und durch seine flapsige Gegenfrage schaffte er es, daß Helen sich weiter mit der bis ans Zynische oder Bösartige reichenden Flapsigkeit ihres Mannes beschäftigte. Das tat sie heftig, indem sie an die letzten sieben Begegnungen mit Herrn Gammertinger erinnerte. Helen wußte noch, worüber gesprochen wurde. Die Osterwaldstraße mit ihren Gehwegen ist eine Gesprächsstraße. Und Helen hat das von früher Kindheit an erlebt.

Karl mußte ihr doch noch hinsagen, daß er auch hätte eintreten können mit den neuesten Nachrichten über Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Fuß, den die Nichtsalschirurgen amputieren wollten und der gerettet worden ist in der Nußbaumerstraße durch den Präsidenten der Diabetesfuß-Gesellschaft, der von der Seite reingegangen ist und ein Stück Knochen rausgenommen hat, so daß ihr jetzt nur zwei Zehen fehlen. Gut, drei Gammertinger-Zehen gegen zwei Amei-Zehen. Das Match steht drei zu zwei für Helen.

Helen wechselte ins Seriöse. Frau Biselski habe acht Tage im Bett liegen müssen, nachdem sie einen Tag bei von Kahns geputzt habe. Nicht selber habe sie das sagen können, sondern durch ihren Mann sagen lassen. Der von Kahnsche Haushalt sei zu ungepflegt. Und der Mann habe auch noch gesagt, er sei dagegen, daß seine Frau putzen gehe und nachher daheim herumliege.

Weil die Putzfrauenjeremiade Helens nie endendes Elend war, mußte Karl Helen jetzt streicheln. Das war Sitte, daß er an diesem Elend streichelnd teilnahm. So kam es, daß Helen sich ihm anschmiegte. Der Putzfrauenkummer quälte Helen. Sie litt darunter, daß keine Putzfrau bei ihr blieb. Sie hielt sich nicht für pedantisch. Sie sagte jeder neuen Putzfrau, hier im Haus könne jeder seine Arbeit einteilen, wie er es für richtig halte. Alles vergebens. Keine blieb. Und wenn eine blieb, war es eine asthmatisch um Luft ringende, sich weder bücken noch strecken könnende zuckerkranke Zweizentnerfrau. Karl begegnete den aufeinander folgenden Frauen kaum. Er kriegte nur Helens Jammer mit. Und mußte dann eben trösten.

Er zog Helen an sich, küßte sie, schob sie, ohne sie loszulassen, von sich, sah ihr ins Gesicht, zog sie wieder her, dann führte er sie eher heftig als gelinde ins Schlafzimmer, löste ihr die Kleider vom Leib und trug sie zum Bett und warf sie ein bißchen ins Weiche. Helens Überraschtsein beantwortete er mit wohldosierter Rücksichtslosigkeit. Es kam darauf an, daß kein Gespräch möglich wurde. Helen färbte ihr Überraschtsein mit Komik. Sie suchte nach einer Rolle in diesem Vorgang. Er mußte ihr aber vermitteln, daß er hier kein Theater mache. Ihm war es ernst. Sie zog ein Gesicht wie die Frau, deren Mann schon am Donnerstagabend zudringlich wird anstatt, wie es sich gehört, am Freitag. Aber Karl konnte sich nicht mehr fortschicken lassen. Er erlebte sich moralisch. Es war das Moralische, was ihm diesen Geschlechtsverkehr befahl und nicht nur befahl, sondern ihn dazu mit einer Deutlichkeit ausstattete, die sich aufführen konnte wie Liebe.