Das sei nicht ihre Sprache.
Er ist doch dein …
Mein Einundallesundobenunduntenundhintenundvorn! Dann rief sie noch: Reicht’s?
Schade, sagte Karl.
Du willst nur wissen, sagte sie, ob Theodor mich vernascht, wenn wir beide wieder in der Stadt sind.
Genau das, sagte Karl. Er wollte sagen, das klinge, als bedauere Joni, daß Strabanzer sie nicht vernasche.
Aber sie sagte gleich, sie müsse jetzt auspacken. Für eine Neuntagereise brauche sie soviel Klamotten wie andere für ein ganzes Jahr.
Sie legte auf. Er starrte noch eine Zeit lang auf die Fassadenwildnis der Vereinsbank, dann verließ er, obwohl er der letzte war, die Firma so leise, als wolle er niemanden stören.
Als er zu Hause eintrat, merkte er, daß er sich nicht vorbereitet hatte. Nur mit Joni hatte er sich beschäftigt. Helen begrüßte ihn gleich mit Vorwürfen. Früh, früher, am frühesten habe er kommen wollen …
Und, sagte Karl, alle Heftigkeit abwiegelnd, wo ist er? Da!
Helen war begierig, ihm vorzulesen, was sie heute geschrieben hatte. Der erfolgreiche Patient kommt in die Warteschleife, ihr Referat für den Traum-Kongreß im September ist jetzt wichtiger als alles. Erstens wimmelt’s da von Koryphäen, zweitens jede Menge Medienmenschen, drittens weiß sie, daß sie etwas zu sagen hat, was außer ihr keiner und keine sagen kann.
Gekocht hat sie schon, Broccoli mit Karottenwürfeln und gerösteten Pinienkernen, durchwirkt vom Zitronensaft, dazu Kurkuma-Nudeln mit gartenfrischem Salbei und ebenso gartenfrischen Kapuzinerkresseblüten. Das alles wartet im Garer bis acht. Aber daß ihr das Vorlesen so leichtfalle wie ihrem Süßen das Zuhören, tunken sie und er vorerst ihre Röstbrote in die Schale, gefüllt mit Helens Basilikum-Pesto. Zum Trinken einen Quittenmost, von ihr selbst gepreßt.
Er wurde in der Küche, die zehnmal so groß war, wie jetzt Küchen sind, auf die gepolsterte Bank bugsiert.
Ihr Referat werde, falls ihr Süßer, den Süßer zu nennen sie heute nicht mehr lassen könne, es ihr nicht verbiete, und selbst wenn, sei es nicht raus, ob sie, die ewig Folgsame, ihm dann gehorche, ihr Referat soll also heißen: Warum darf der Traum Klartext der Ehe genannt werden?
Und fing an: Daß ich in diesem Referat keinen großen Namen, keine Kapazität zitieren werde, ist Programm. Wer sich beim Verstehenwollen eigener Träume auf andere beruft, ist schon verloren. Kapazitäten sind meistens älter als der, der jetzt geträumt hat. Sind gar schon tot. Also von gestern. Und nichts muß mehr von heute sein als alles, was wir über unsere Träume sagen. Heinrich Heines Zeile Ich hab im Traum geweinet ist der einzige Import, den ich dulde, weil diese Zeile nichts ist als eine Stimmung. Man könnte sie zum Text meines Referates spielen wie Musik zu Filmszenen. Ich hab im Traum geweinet ist also die Musik zum Klartext der Ehe. Das heißt: 1. Träume sagen das, was wir am Tag nicht sagen können. Nicht mehr sagen können oder noch nicht. 2. Wenn Menschen anfangen, aus welchen Gründen auch immer, einander etwas zu verschweigen, liegt das Verschwiegene allem Gesagten zugrunde. 3. Je länger Menschen etwas voreinander verschweigen, desto unmöglicher wird es für sie, das Verschwiegene noch auszusprechen. 4. Das Verschwiegene kann sich dann nur noch im Traum aussprechen. 5. Wenn in einer Ehe auch der Traum verschwiegen werden muß, weil in ihm zuviel vom Verschwiegenen deutlich werden würde, ist die Ehe in allergrößter Gefahr. In der Therapie muß gelernt werden, den Traum dem Therapeuten, der Therapeutin zu erzählen. Das ist schwer genug, weil alle Menschen aufwachsen in einer Routine der Traum-Verfehlung, der Traum-Zerstörung. Die meisten können keinen Traum erzählen. Sie erzählen immer gleich das, was sie für die Bedeutung des Geträumten halten. Also eine strenge Schulung zur Wiedergabe des Traums, wie er war. Wenn das in der Therapie gelernt ist, muß gelernt werden, den Traum vor dem dann dazugeladenen Partner zu erzählen. Wenn das gelingt, gibt es die Hoffnung, das Verschwiegene zur Sprache zu bringen und das Verschweigen als alles bestimmende Umgangsart zu beenden.
Soweit ist sie jetzt. Diese fünf Punkte wird sie ausarbeiten. Was meint ihr Süßer zu diesem Programm? Und war aufgesprungen, um aus dem Garer die angesagten Köstlichkeiten zu holen.
Karl mußte zuerst den Quittenmost loben. Dann das Traum-Klartext-Programm. Wenn sie das schaffe, daß die Leute ihre Träume aus der herrschenden Deutungssklaverei befreien könnten, sei sie eine Revolutionärin.
Am wichtigsten sei ihr Programmpunkt sechs, sagte Helen, die jetzt die Speisen auftischte, die dank Helens Behandlung auf das natürlichste schimmerten. Programmpunkt sechs sei der letzte und entscheidende Programmpunkt. Als Träumer sei jeder Mensch unschuldig. Die Träume, sagte Helen, sorgen für höchste Gerechtigkeit. Gerechter als alle Moral, Ethik und so weiter! Die Träume gleichen aus. Gleichen alles aus. Aber was die Träume von selbst leisten, zerstören die Menschen, wenn sie die Träume nachher ihrer Tagesmoral unterwerfen, sie durch Verschweigen, Verdrehen, Verfälschen, Verharmlosen einordnen in die Seelenlandschaft, aus der auszubrechen geträumt worden war.
Karl war beeindruckt. Wenn du das schaffst, Schatz, sagte er.
Das schaff ich, sagte sie.
Und nebenbei revolutionierst du noch die Essenskultur, sagte Karl.
Das schaffe sie leider nicht, sagte sie. Wenn’s gutgeht, dann hier im Hause, aber draußen?! Schau dich selber an. Bei mir bist du selig von Avocado bis Zucchini. Und draußen frißt du ein Hähnchen nach dem anderen.
Hähnchen, sagte Karl, das weißt du, kommt bei mir nicht vor.
Nur weil dir durch Fanny die Züchtungsgreuel vorstellbar geworden sind, sagte Helen. Sie habe bei ihm nichts erreicht. Nichts, nirgends. Und wenn sie nicht einmal bei ihm, bei ihrem eigenen Mann, dem Nächsten, was sie habe, wenn sie nicht einmal den um einen Hauch weiterbringe, dann wisse sie, daß sie, was die Esserei angehe, zum Mißerfolg verurteilt sei. Die Frauen seien verloren in ihrem feministischen Gezappel. Vegetarier zu sein gelte ihnen als hübsche Marotte. Daß Frauen Tiere töten lassen können, begreife sie nicht. Sie verlange von Frauen nicht mehr als von Männern, aber anderes. In hundert Jahren noch nicht, aber in fünfhundert Jahren wird es ganz sicher dämmern, daß wir Tiere nicht töten dürfen. Daß man Tiere produzierte, um sie zu töten, wird dann immer unverständlicher werden. Es wird als Kannibalismus verstanden werden. Über die heute als stumm verschriene Tierwelt wird soviel bekannt geworden sein, daß es unmöglich sein wird, Wesen, die uns so nahe sind, einfach zu töten und sie dann auch noch zu essen.
Da Karl wußte, Helen werde, wenn es um Tiere ging, von sich aus nicht aufhören, mußte er mit beiden Händen über den schmalen Tisch hinübergreifen, Helen streicheln und sagen, daß er sie bewundere. Und stieß damit natürlich an den Joni-Satz: Du bist ein Bewunderer.
Helen sagte das nicht. Sie sagte: Freut mich.
Liebe Frau, sagte er, ich habe viel nachzuholen, könnte sein, ich übernachte heute droben bei mir.
Sie erschrak, ihr Gesicht wurde förmlich dunkel. Von innen her. Sie hatte offenbar mit allem rechnen können, nur nicht damit, daß ihr Mann, den sie nun mit Feinstem gespeist, subtil belehrt und massiv beeindruckt hatte, sich ihr jetzt einfach entzog. Karl sah und spürte ihren Schmerz. Helen wollte ihn hindern, Joni anzurufen. Ohne etwas zu wissen, ging es ihr nur darum. Daß er und wie er jetzt ging, erlebte er selber als Brutalität. Die konnte er weder sich noch Helen ersparen. Zum Glück, dachte er, weiß sie nicht, warum sie jetzt leidet.
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Hören Sie, die Dame ist momentan außer Haus. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?
Bitte teilen Sie mit, Herr von Kahn habe angerufen und wünsche eine gute Nacht.