Выбрать главу

Nein, er mußte weg. Weg, bevor Helen zurückkam. Helen würde ihn jetzt nicht aus dem Haus lassen. Sie war sicher die leiseste Frau der Welt. Aber auch die unerbittlichste. Daß sie ausgezogen war, bevor er auszog, war ihr Sieg, den sie als Niederlage verkaufte. Sie konnte tun, was sie wollte. Da sie ihn im Leiden schlug, schlug sie ihn überhaupt. Es blieb nur die Unterwerfung. Die Lüge als Lebensform.

Nach Herrsching! Ins Kronprinz Ludwig. Keinem etwas erklären müssen. Helens Brief hatte er noch in der Hand. Mitnehmen mußte er ihn. Noch nie hatte er, Geld zu haben, so wohltuend erlebt. Er brauchte keinen Koffer, keinen Mantel, keinen Rasierapparat, er hatte Geld. Er konnte hinfahren, hinfliegen, wohin er wollte. Das Kronprinz Ludwig war die falsche Adresse. Er mußte irgendwo landen, wo keiner fragen würde: Wie geht es Ihnen. Turin oder Genua? Sollte er den Dreist-Brief noch einmal lesen? Vielleicht war es ein Jux-Brief. Sie hatten getrunken, Joni hatte dem Kollegen aus Übermut diesen Brief diktiert. Er konnte ihn nicht noch einmal lesen. Vielleicht konnte er Helens inhaltsarme Umschweifigkeit jetzt ertragen. Vielleicht tat sie ihm sogar gut. Also las er Helens Brief.

Lieber Karl,

jetzt die Flucht. Vor Dir. Den Kongreß nutzen zur Flucht. Nach dem Kongreß in die Ottostraße. Du bist ein Nichtmehrmensch. Geworden. Ich bin ein Keinmenschmehr. Geworden. Durch Dich. Kann nicht mehr zurückschauen in die Vorzeit. Mir wollen nachkommen Wörter von Dir. Aus der Vorzeit. Du warst ein Liebender. Aus. Wenn ich tot wäre, müßtest Du nicht mehr lügen. Mein Tod, das wäre die Lösung. Ich spüre, ich bin schon zu schwach, in unseren Umständen noch etwas Rettendes zu entdecken. Lösung … solche Wörter jetzt. Wir können einander noch quälen. Ich Dich dadurch, daß ich noch lebe. Du mich dadurch, daß es mich nicht mehr gibt. Strecken verständlichen Gesprächs werden durch plötzlich aufwallenden Schmerz ganz zerschlagen. Der Schmerz ist der Dirigent. Dein Schmerz, weil es mich noch gibt. Mein Schmerz, weil es mich nicht mehr gibt. Schluß mit der Beschwichtigungsscheiße. Von Dir weg, zu Dir hin, eine Simultanbewegung. Ich könnte jetzt eure Wörter ausleihen und sagen: Ich möchte Tag und Nacht gefickt werden von Deinem relativ großen Schwanz. In der Hoffnung, sie habe diese Wendung dafür noch nicht gebraucht. Ich kann von Dir aber verlangen, mich nicht länger zu täuschen. Ich bin mir schuldig, mich nicht länger zu täuschen. Es gibt eine Menge Wörter, die darauf hinauslaufen, daß es eine Niederlage sei zu siegen. Ich schneide uns jetzt auseinander. Und gehe. Das schaff ich schon. Soviel muß ich mir noch wert sein. Selbst wenn ich Dich beschimpfte, gäbe ich zu viel preis von mir. Das verdienst Du nicht. Ich werde, was ich von meinen Klienten erwarte, in Zukunft mäßigen. Was Dir Deine Haltlosigkeit ist, ist mir meine Fassung. Es könnte sich das Gefühl bilden, Du glittest ab an mir wie nichts. Dieses Gefühl möchte ich willkommen heißen. Nie einen heiraten, den man liebt. Miquel war der Richtige. Das habe ich jetzt, um in Deiner neuen Sprache zu reden, geschnallt.

Es grüßt

Helen

Er saß, sah zu den Astaugen hinauf, es meldete sich die Mobilbox. Daniela. Der übliche Text: Ich verbrenne hier wie ’ne Kerze. Ich kann nicht schlafen, weil du mich nicht liebst. Ich möchte dich an die Wand klatschen. Du hast keine Ahnung, was Abhängigkeit ist. Wenn du mich verläßt, bring ich meinen mönchischen Mann um. Gute Nacht.

Er hatte das erste Mal das Gefühl, er verstehe, was Daniela sagte.

Hatte er das Aufhören nicht ernsthaft genug trainiert? Hatte er sich nicht mehr als einmal gesagt: Du lügst, du tust nur so, als wolltest du aufhören? Er hatte Schluß machen wollen mit dieser bösartigen Unterscheidung von Lüge und Wahrheit. Wenn er etwas sagte, was nicht so war, wie er es sagte, er aber wollte, daß es so wäre, wie er es sagte, dann ließ er das keine Lüge nennen. Und jetzt: Das ganze Aufhörtraining nichts als eine Lüge? Was tut sie gerade jetzt und mit wem? Du kannst da droben in allen Etagen den Aufhörfeldzug führen, uns geht das nichts an. Uns! Das war er. Die Majorität. Hatte sich in ihm, ohne daß er das wahrgenommen hatte, eine Verschmelzung vollzogen? Joni war das Leben? Auf Joni verzichten hieß, auf das Leben verzichten? War das sein Zustand?

Als er Joni über ihren Fürst Bertram ausfragte, sagte sie, der habe ein pubertäres Verhältnis zu seinem Schwanz. Ihm wäre es doch niemals in den Sinn gekommen, das Geschlecht einer Frau, über die er mit Joni sprach, Fotze zu nennen. Dieses Wort war für ihn nur brauchbar, wenn es um Joni ging. Als er ihr das erklärte, sah sie das Unziemliche ihres Sprachgebrauchs ein. Aber daß sie so hatte reden können, war nicht mehr rückgängig zu machen. Joni.

Obwohl sie nicht geschminkt ausgesehen hatte, sah man, wenn sie sich abgeschminkt hatte, daß sie vorher geschminkt gewesen war. Die Augen nützen nichts. Sie sind ein Sinn im Dienst der Täuschung. Er hat alles für etwas gehalten, was es nicht war. Nicht nur die Augen hatten sich als unbrauchbar erwiesen. Auch sein Gefühl. Nichts war so, wie er es empfunden hatte. Hoffentlich auch er selber nicht.

Drei

1

Diego sagt angeblich dem, dem er gerade gegenübersitzt, die Interessenlage unverfälscht ins Gesicht. Und hat durch diese unübliche Offenheit immer einen Vorsprung. Karl von Kahn machte das gelegentlich nach.

Als er Markus Luzius Babenberg im Konferenzraum gegenübersaß, nicht am Konferenztisch, sondern in den zierlichen Sesseln in der Sitzecke, da beschrieb er, sicher zu ausführlich, wie überrascht er gewesen sei, einem Besuch von Markus Luzius Babenberg entgegensehen zu dürfen. Schließlich denke, wer an Markus Luzius Babenberg denke, an alles eher als an Geld und Geschäft. Er, Karl von Kahn, habe sich nicht dagegen wehren können, daß er alle Menschen der Welt, egal, ob er sie persönlich kenne oder von ihnen gehört oder gelesen habe, in zwei Kategorien scheide. Die einen nennen den Profit Gewinn, die anderen nennen den Gewinn Profit.

Und mich, sagte Babenberg, haben Sie zu denen gesteckt, die zum Gewinn Profit sagen.

Karl nickte. Gab aber zu, dieser Einteilungszwang sei die Folge einer berufsbedingten Verkrüppelung. Er wisse so gut wie mancher Professor und jeder Pfarrer, daß, was als Gewinn erscheint, stornierter Verlust sei. Aber das Als-ob-Spiel ist der einzige Zeitvertreib.

Babenberg lachte lautlos, lachte nur mit seinem etwas zu kleinen Mund. Klar, sagte er, Sie müssen es allen recht machen.

Nur mir selber nicht, sagte Karl von Kahn.

Und Babenberg: Auch was mich betrifft, sind Sie dispensiert.

Karl von Kahn: Ich freue mich auf unser Gespräch.

Babenberg: Ich komme natürlich wegen Geld zu Ihnen. Und ich war links. Ich war fasziniert von der Gerechtigkeitsillusion. Bitte, denken Sie nicht, daß ich mich vor dem linken Eo-ipso-Bessersein ekle. Ich sympathisiere damit. Ich gebe aber zu: nicht ohne Hochmut. So wie man mit einem unvorteilhaften Aussehen sympathisiert, das man selber nicht hat. Ich werfe es mir durchaus vor, daß ich bei der öffentlichen Politmoralshow inzwischen fehle. Es gibt hinreißende Exemplare unter den Eo-ipso-Guten, aber eben auch solche, die das Kotzen, zu dem sie reizen, nicht wert sind. Entschuldigung. Und noch nachgefügt: Seit jeder Halbbedarfte in Kassandras Kleider schlüpft.

Das war zum Schluß ein Ausbruch. Es klang, als habe sich Babenberg beim Tolerantseinwollen überanstrengt. Es war Haß. Dem galt die Entschuldigung. Babenbergs Mund zog sich auf sich selbst zurück. Die vorsichtig, aber sehr bestimmt mitarbeitenden eher zarten Hände fielen wie erschöpft auf die jetzt lang ausgestreckten Beine und reichten bis zu den Knien. Pepita. In Cashmere. Vier Knöpfe. Alle zu. Das können sich nur wirklich Schlanke leisten. Also ganz kurze Revers. Und darunter ein T-Shirt. Schwarz.