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Langsam hob Marilla Annes Kleider auf, legte sie ordentlich auf dem Stuhl zusammen und ging dann mit der Kerze in der Hand auf das Bett zu.

»Gute Nacht«, sagte sie etwas verlegen, aber keineswegs unfreundlich.

Plötzlich erschien Annes blasses Gesicht mit den großen Augen über der weißen Bettdecke. »Wie können Sie von einer >guten< Nacht sprechen, wo Sie doch genau wissen, dass es die schlimmste Nacht meines Lebens ist?«, sagte sie vorwurfsvoll.

Dann tauchte sie wieder in die Versenkung unter.

Kopfschüttelnd ging Marilla in die Küche zurück und machte sich daran, das Geschirr vom Abendessen zu spülen. Matthew rauchte Pfeife, was bei ihm immer ein sicheres Zeichen für innere Unruhe war. Mit Rücksicht auf Marilla, die das Rauchen für eine schlechte, ungesunde Angewohnheit hielt, rauchte er äußerst selten. Aber manchmal war die Pfeife für ihn einfach unentbehrlich. Marilla wusste das und übersah es dann geflissentlich.

»Das ist ja eine schöne Bescherung!«, sagte sie zornig. »Das hat man nun davon, wenn man andere um etwas bittet, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Gleich morgen früh werde ich zu Mrs Spencer hinüberfahren und die Sache klären. Das Kind muss wieder zurück ins Waisenhaus.«

»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, gab Matthew zögernd zurück. »Wahrscheinlich? Was soll das heißen?«

»Hm ... sie ist ein liebes kleines Ding, Marilla. Eigentlich Einjammer, sie zurückzuschicken. Sie würde ja so gern bleiben.«

»Matthew Cuthbert, du willst doch nicht sagen, wir sollten sie behalten?«

Marilla verstand die Welt nicht mehr. Sie hätte nicht überraschter sein können, wenn Matthew ihr plötzlich mitgeteilt hätte, er würde am liebsten den ganzen Tag auf dem Kopf stehen.

»Hm, nein ... ich glaube nicht. . . das heißt«, stammelte Matthew, der sich immer unwohl fühlte, wenn er eine genaue Aussage machen sollte. »Ich meine, niemand kann von uns verlangen, dass wir sie hier bei uns aufnehmen.«

»Allerdings. Sie ist nicht die Richtige für uns.«

»Aber vielleicht sind wir die Richtigen für sie«, wandte Matthew ein. »Matthew Cuthbert, ich glaube langsam, dieses Kind hat dich behext! Ich seh’s dir doch an der Nasenspitze an, dass du sie hier behalten willst.«

»Hm, tja ... sie ist ein so interessantes Ding«, fuhr Matthew fort. »Du hättest hören sollen, was sie mir alles auf der Fahrt vom Bahnhof erzählt hat.«

»Oh, reden kann sie, das ist mal sicher. Aber ob ausgerechnet das zu ihren Gunsten spricht? Ich mag Kinder nicht, die pausenlos vor sich hinplappern. Ich möchte kein Mädchen - und selbst wenn ich eines wollte, dann wäre dieser redselige Rotschopf auch nicht gerade mein Typ. Nein, nein, wir müssen sie auf schnellstem Weg dahin zurückbringen, wo sie hergekommen ist.«

»Ich könnte einen jungen Franzosen einstellen, der mir bei der Arbeit hilft«, schlug Matthew vor. »Und sie könnte dir ein bisschen Gesellschaft leisten.«

»Ich brauche keine Gesellschaft«, erwiderte Marilla schroff. »Und ich habe nicht vor, sie bei uns aufzunehmen.«

»Wir machen natürlich alles so, wie du es sagst, Marilla«, schloss Matthew, stand auf und legte seine Pfeife beiseite. »Ich gehe ins Bett.«

Damit verließ er die Küche und auch Marilla legte sich mit düsterer Miene schlafen, nachdem sie das Geschirr gespült und abgetrocknet hatte. Oben im Ostgiebel von Green Gables lag ein einsames, heimatloses Kind und weinte sich in den Schlaf.

04 - Der erste Morgen auf Green Gables

Es war schon heller Morgen, als Anne erwachte, sich im Bett aufsetzte und verwirrt auf das Fenster starrte, durch das eine Flut warmen Sonnenlichts hereinströmte.

Im ersten Moment konnte sie sich nicht entsinnen, wo sie eigentlich war. Doch dann fiel ihr mit einem Mal alles wieder ein: Sie war auf Green Gables, aber man wollte sie nicht hier behalten, weil sie ein Mädchen war!

Doch es war ein herrlicher Morgen und vor ihrem Zimmer stand ein Kirschbaum in voller Blüte. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, öffnete weit das Fenster und sah staunend hinaus in den sonnigen Junimorgen.

Der riesige Kirschbaum vor ihrem Fenster stand so nahe am Haus, dass seine Äste die Wände berührten; und er war so voller Blüten, dass man kaum ein einziges grünes Blatt sehen konnte. Auf beiden Seiten des Hauses lagen große Obstgärten mit Apfel- und Kirschbäumen. Sie sahen aus wie ein einziges Blütenmeer. Das Gras unter den Bäumen war von gelbem Löwenzahn übersät. Etwas weiter unten im Garten blühte der Flieder und der Morgenwind wehte seinen süßlichen Duft herüber.

Auf der anderen Seite des Gartens erstreckte sich eine saftige Kleewiese bis zu dem von weißen Birken umsäumten Bachlauf. Jenseits des Baches erhob sich ein kleiner Hügel mit Fichten und Tannen, durch deren Zweige sie den grauen Giebel des kleinen Hauses sehen konnte, das am anderen Ufer des >Sees der glitzernden Wasser< stand. Etwas weiter links konnte man hinter den großen Scheunen und den grünen, leicht abfallenden Feldern das Meer erkennen. Anne sog jede Einzelheit gierig ein. Völlig versunken in die Schönheit dieser Landschaft kniete sie am Fenster, als ihr plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legte. Es war Marilla, die unbemerkt ins Zimmer getreten war.

»Es wird Zeit, dass du dich anziehst«, sagte sie unwirsch.

Marilla wusste nicht recht, was sie mit dem Kind reden sollte, und dieses Unvermögen ließ sie barsch und unfreundlich erscheinen, auch wenn sie es nicht so meinte.

Anne stand auf und seufzte tief. »Oh, ist es nicht wunderbar?«, fragte sie und deutete mit der Hand hinaus.

»Ein stattlicher Baum«, bestätigte Marilla, »und er blüht reichlich. Bloß die Früchte sind nichts Besonderes - klein und voller Würmer.«

»Oh, ich meine nicht nur den Baum. Natürlich ist er schön, himmlisch schön - er blüht, als ginge es um sein Leben. Ich meine alles hier: den Garten und die Obstplantage und den Bach und die Bäume - die ganze große, liebe Welt. An einem solchen Morgen muss man die Welt einfach lieben, geht es Ihnen nicht auch so? Und ich kann den Bach hier oben plätschern hören. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie lustig Bäche sind? Sie kichern die ganze Zeit vor sich hin. Selbst im Winter kann man sie unter dem Eis hören. Ich bin so froh, dass es hier einen Bach gibt! Ich werde mich immer gerne daran erinnern, auch wenn ich Green Gables niemals wieder sehe. Heute Morgen bin ich nicht mehr mit der Welt zerfallen. Ist es nicht herrlich, dass es jeden Tag einen Morgen gibt? Traurig bin ich allerdings immer noch. Ich habe mir gerade vorgestellt, Sie wollten mich vielleicht doch behalten und ich könnte bis in alle Ewigkeit hier bleiben. Es war eine wunderschöne Vorstellung. Das Schlimme daran ist nur, dass man früher oder später doch in die Wirklichkeit zurück muss und das tut dann sehr weh.«

»Du solltest dich lieber anziehen und nach unten kommen, anstatt dich hier oben zu verträumen«, sagte Marilla, als sie endlich auch einmal zu Wort kam. »Das Frühstück ist schon fertig. Wasch dein Gesicht und kämme dir die Haare. Lass das Fenster offen und schlag die Bettdecke über das Fußende - und beeil dich!«