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»Tut Ihnen Leid, Miss, tut Ihnen leid, das ändert gar nichts. Sie sollten sich besser die Verwüstung ansehen, die dieses Tier auf meinem Haferfeld angerichtet hat . . . von vorn bis hinten niedergetrampelt, Miss.«

»Es tut mir sehr Leid«, wiederholte Anne fest, »aber wenn Sie Ihre Zäune besser instand hielten, wäre Dolly vielleicht nicht eingebrochen. Es ist Ihr Zaun, der Ihr Haferfeld von unserer Weide trennt, und mir ist neulich aufgefallen, dass er nicht in allerbestem Zustand ist.«

»Mein Zaun ist in Ordnung«, fauchte Mr Harrison und wurde noch wütender, als er ohnehin schon war, da der Kriegsschauplatz auf sein Gebiet verlegt wurde. »Selbst ein Gefängniszaun könnte diesen Teufel von einer Kuh nicht aufhalten. Und das sage ich Ihnen, Sie ... Sie Karotte, wenn diese Kuh, wie Sie behaupten, Ihnen gehört, dann sollten Sie sich besser damit beschäftigen, die Kuh von anderer Leute Kornfeldern fern zu halten, statt herumzusitzen und gelb eingebundene Romane zu lesen«, sagte er mit einem scharfen Blick auf den unschuldig gelbfarbenen Vergil zu Annes Füßen.

Als Mr Harrison sie >Karotte< nannte und damit unwissentlich Annes empfindlichsten Punkt - ihre roten Haare - traf, sah Anne rot: »Lieber rote Haare als gar keine, mal abgesehen von den paar Strähnen über den Ohren«, funkelte sie ihn an.

Das saß, denn Mr Harrison war seinerseits ausgesprochen empfindlich, was seine Glatze betraf. Sein Zorn ließ ihn erneut verstummen. Er starrte Anne nur sprachlos an, die wieder die Fassung gewann und ihren Vorteil nutzte.

»Ich kann Ihnen verzeihen, Mr Harrison, weil ich mir gut vorstellen kann, wie schlimm es für Sie sein muss, in Ihrem Haferfeld eine Kuh zu entdecken. Ich werde keinen weiteren Groll gegen Sie hegen wegen dem, was Sie gesagt haben. Ich verspreche Ihnen, dass Dolly nie wieder in Ihr Haferfeld einbrechen wird. Da gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«

»Wehe, wenn doch!«, war alles, was Mr Harrison angesichts dieser Rede noch zu sagen blieb. Zornig stampfte er davon. Anne hörte, wie er etwas vor sich hin brummte, bis er außer Hörweite war.

Furchtbar aufgeregt ging Anne über den Hof und sperrte die störrische Kuh in den Stall.

»Hier dürfte sie wohl kaum herauskommen, es sei denn, sie reißt die Bretter um«, überlegte sie. »Sie ist plötzlich so friedlich. Ich glaube, sie hat sich auf dem Haferfeld krank gefressen. Hätte ich sie nur letzte Woche an Mr Shearer verkauft, aber ich dachte, ich könnte ebenso gut bis zum Verkauf unseres Viehs warten und dann alle Tiere zusammen verkaufen. Ich glaube, es stimmt, Mr Harrison ist ein Kauz. Eine verwandte Seele jedenfalls ist er nicht.«

Anne hielt stets Ausschau nach verwandten Seelen.

Marilla Cuthbert fuhr gerade in den Hof, als Anne vom Stall zurückkam. Sie machte schnell Tee und besprach die Angelegenheit mit Marilla.

»Ich bin froh, wenn das Vieh endlich verkauft ist«, sagte Marilla. »Es bedeutet einfach zu viel Verantwortung. Vor allem, da wir nur den unzuverlässigen Martin haben, der sich darum kümmert. Wo steckt er überhaupt? Er hatte doch versprochen, er würde ganz bestimmt bis gestern Abend wieder da sein, wenn ich ihm den Tag frei gäbe, damit er zur Beerdigung seiner Tante gehen könnte. Weiß der Himmel, wie viele Tanten er hat. Das ist die vierte, die gestorben ist, seit er sich vor einem Jahr hier bei uns verdungen hat. Ich bin heilfroh, wenn die Ernte erst eingebracht ist und Mr Barry die Farm übernimmt. Wir müssen Dolly im Stall lassen, bis Martin kommt, denn sie muss auf die hintere Weide gebracht werden und da müssen erst die Zäune repariert werden. Wirklich, nichts als Ärger auf dieser Welt, wie Rachel immer sagt. Da muss diese arme Mary Keith sterben - und keine Ahnung, was jetzt aus ihren Kindern werden soll. Sie hat einen Bruder in British Columbia, dem sie wegen der Kinder geschrieben hat, aber bis jetzt hat sie noch nichts von ihm gehört.«

»Wie sehen die Kinder aus? Wie alt sind sie?«

»Über sechs - es sind Zwillinge.«

»Oh, Zwillinge haben mich schon immer interessiert, seit ich bei Mrs Hammond wohnte, die doch diese vielen Zwillinge hatte«, sagte Anne gespannt. »Sind sie hübsch?«

»Oje, schwer zu sagen, sie waren zu dreckig. Davy hatte draußen Matschkuchen gebacken und Dora sollte ihn hereinrufen. Davy hat sie mit dem Kopf voran in den größten Matschkuchen gestupst. Weil sie dann geweint hat, hat er sich auch darin herumgewälzt, um ihr zu zeigen, dass sie überhaupt keinen Grund zum Heulen hätte. Mary sagt, Dora wäre wirklich brav, aber Davy würde dauernd etwas aushecken. Er wurde eben nie richtig erzogen. Sein Vater starb, als Davy noch ein Baby war, und Mary war seit der Zeit fast ständig krank.«

»Mir tun Kinder, die nie richtig erzogen werden, immer Leid«, sagte Anne trocken. »Wie du weißt, erging es mir genauso, bis ich zu euch kam. Hoffentlich kümmert sich ihr Onkel um sie. Wie sind die Keiths eigentlich mit dir verwandt?«

»Mary? Gar nicht. Aber ihr Mann, er war ein Cousin dritten Grades. Da kommt Mrs Lynde über den Hof. Sie will sich bestimmt nach Mary erkundigen.«

»Erzähl ihr nichts von Mr Harrison und der Kuh«, flehte Anne.

Marilla versprach es, aber das Versprechen war überflüssig, denn Mrs Lynde saß noch nicht ganz, als sie schon sagte: »Als ich heute aus Carmody zurückkam, habe ich beobachtet, wie Mr Harrison deine Kuh von seinem Haferfeld verjagte. Er sah aus, als sei er wahnsinnig. Hat er großen Krach geschlagen?«

Anne und Marilla warfen einander heimlich ein amüsiertes Lächeln zu. Es gab nicht viel in Avonlea, was Mrs Lynde je entging. Erst am Morgen hatte Anne gesagt: »Und wenn man um Mitternacht in sein Zimmer geht, die Tür abschließt, den Rolladen herunterlässt und auch nur niest, Mrs Lynde würde einen am nächsten Tag fragen, was die Erkältung macht!«

»Ich glaube schon«, gestand Marilla. »Ich war nicht da. Er hat Anne die Leviten gelesen.«

»Er ist ein ausgesprochen unangenehmer Mensch«, sagt Anne und schüttelte ärgerlich ihren roten Haarschopf.

»Wie wahr«, sagte Mrs Rachel feierlich. »Ich wusste gleich, es würde Ärger geben, als Robert Bell die Farm an einen Menschen aus New Brunswick verkaufte, jawohl! Ich weiß nicht, wohin das mit Avonlea noch führen soll, all diese Fremden, die hier einfallen. Bald sind wir nicht mal mehr unserer eigenen Betten sicher.«

»Wieso, welche Fremden denn noch?«, fragte Marilla.

»Hast du das denn nicht gehört? Zum Beispiel diese Familie Donnell. Sie hat Peter Sloanes altes Haus gemietet. Peter hat den Mann angestellt, damit er seine Mühle betreibt. Sie stammen irgendwo aus dem Osten. Kein Mensch weiß etwas über sie. Dann zieht diese faule Timothy-Cotton-Familie aus White Sands hierher. Sie wird der Gemeinde nur zur Last fallen. Er ist krank - wenn er nicht sogar auch noch stiehlt - und seine Frau ist eine faule, verdrehte Person, die auch nicht einen Finger rührt. Sie wäscht das Geschirr im Sitzen. Und Mrs George Pye hat Anthony Pye, den verwaisten Neffen ihres Mannes, zu sich genommen. Er wird bei dir in die Schule gehen, Anne. Du kannst dich also auf Ärger gefasst machen, kann ich dir sagen. Und noch einen neuen Schüler wirst du bekommen. Paul Irving kommt aus den Staaten und wird bei seiner Großmutter wohnen. Du erinnerst dich doch an seinen Vater, Marilla - Stephen Irving, der Lavendar Lewis aus Grafton sitzen gelassen hat?«

»Er hat sie nicht sitzen gelassen. Sie haben sich zerstritten. Ich meine, beide trifft Schuld.«

»Jedenfalls hat er sie nicht geheiratet und seitdem ist sie sehr merkwürdig. Sie soll ganz allein in diesem kleinen Steinhaus leben, das sie Echo Lodge nennt. Stephen ist in die Staaten gegangen, in das Geschäft seines Onkels eingetreten und hat eine Yankee geheiratet. Er war seither nicht einmal wieder zu Hause, obwohl seine Mutter ihn ein-, zweimal besucht hat. Vor zwei Jahren ist seine Frau gestorben und er hat den Jungen zu seiner Mutter nach Hause geschickt. Der Junge ist zehn Jahre alt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein sehr angenehmer Schüler sein wird. Mit diesen Yankees ist das so eine Sache.«