Während ich in der Küche und im Badezimmer wartete, um ihn allein weinen zu lassen, hatte ich gehofft, er würde so erschüttert sein, daß er mir eine große Summe schenkte, ohne die blöden Bedingungen, aber ich las jetzt in seinen Augen, er konnte es nicht. Er war kein Realist, und ich war keiner, und wir beide wußten, daß die anderen in all ihrer Plattheit nur Realisten waren, dumm wie alle Puppen, die sich tausendmal an den Kragen fassen und doch den Faden nicht entdecken, an dem sie zappeln.
Ich nickte noch einmal, um ihn ganz zu beruhigen: ich würde weder von Geld noch von Henriette anfangen, aber ich dachte an sie auf eine Weise, die mir ungehörig vorkam, ich stellte sie mir vor, wie sie jetzt wäre: dreiunddreißig, wahrscheinlich von einem Industriellen geschieden. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie diesen Kitsch mitgemacht hätte, mit Flirts und Parties und »Am Christentum festhalten«, in Komitees herumhocken und »zu denen von der SPD besonders nett sein, sonst bekommen sie noch mehr Komplexe«. Ich konnte sie mir nur desperat vorstellen, etwas tun, das die Realisten für snobistisch halten würden, weil es ihnen an Phantasie fehlte. Irgendeinem der unzähligen Träger des Präsidententitels einen Cocktail in den Kragen schütten oder einem zähnefletschenden Oberheuchler mit ihrem Auto in seinen Mercedes hineinfahren. Was hätte sie schon tun können, wenn sie nicht malen oder auf der Töpferscheibe Butterfäßchen hätte drehen können. Sie würde es doch spüren, wie ich es spürte, überall, wo sich Leben zeigte, diese unsichtbare Wand, wo das Geld aufhörte, zum Ausgeben da zu sein, wo es unantastbar wurde und in Tabernakeln als Ziffer existierte. Ich gab meinem Vater den Weg frei. Er fing wieder an zu schwitzen und tat mir leid. Ich lief schnell ins Wohnzimmer zurück und holte das schmutzige Taschentuch vom Tisch und steckte es ihm in die Manteltasche. Meine Mutter konnte sehr unangenehm werden, wenn sie bei der monatlichen Wäschekontrolle ein Stück vermißte, sie würde die Mädchen des Diebstahls oder der Schlamperei bezichtigen.
»Soll ich dir ein Taxi bestellen?« fragte ich.
»Nein«, sagte er, »ich geh noch ein bißchen zu Fuß. Fuhrmann wartet in der Nähe des Bahnhofs.« Er ging an mir vorbei, ich öffnete die Tür, begleitete ihn bis zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Ich nahm noch einmal meine Mark aus der Tasche, legte sie auf die ausgestreckte linke Hand und blickte sie an. Mein Vater blickte angeekelt weg und schüttelte den Kopf. Ich dachte, er könnte wenigstens seine Brieftasche herausnehmen und mir fünfzig, hundert Mark geben, aber Schmerz, Edelmut und die Erkenntnis seiner tragischen Situation hatten ihn auf eine solche Ebene der Sublimierung geschoben, daß jeder Gedanke an Geld ihm widerwärtig, meine Versuche, ihn daran zu erinnern, ihm wie ein Sakrileg erschienen. Ich hielt ihm die Aufzugstür auf, er umarmte mich, fing plötzlich an zu schnüffeln, kicherte und sagte: »Du riechst wirklich nach Kaffee — schade, ich hätte dir so gern einen guten Kaffee gemacht — das kann ich nämlich.« Er löste sich von mir, stieg in den Aufzug, und ich sah ihn drinnen auf den Knopf drücken und listig lächeln, bevor der Aufzug sich in Bewegung setzte. Ich blieb noch stehen und beobachtete, wie die Ziffern aufleuchteten: vier, drei, zwei, eins — dann ging das rote Licht aus.
16
Ich kam mir dumm vor, als ich in die Wohnung zurückging, die Tür schloß. Ich hätte sein Angebot, mir Kaffee zu kochen, annehmen und ihn noch etwas festhalten sollen. Im entscheidenden Augenblick, wenn er den Kaffee servierte, glücklich über seine Leistung diesen eingoß, dann hätte ich sagen müssen: »Raus mit dem Geld« oder »Her mit dem Geld«. Im entscheidenden Augenblick geht es immer primitiv zu, barbarisch. Dann sagt man: »Ihr kriegt halb Polen, wir halb Rumänien — und bitte, möchten Sie von Schlesien zwei Drittel oder nur die Hälfte? Ihr kriegt vier Ministersessel, wir kriegen den Huckepackkonzern.« Ich war ein Dummkopf gewesen, auf meine und seine Stimmung hereinzufallen und nicht einfach nach seiner Brieftasche zu greifen. Ich hätte einfach von Geld anfangen, mit ihm darüber sprechen sollen, über das tote, abstrakte, an die Kette gelegte Geld, das für viele Menschen Leben oder Tod bedeutete. »Das ewige Geld« — diesen Schreckensausruf tat meine Mutter bei jeder Gelegenheit, schon, wenn wir sie um dreißig Pfennig für ein Schulheft baten. Das ewige Geld. Die ewige Liebe. Ich ging in die Küche, schnitt mir Brot ab, strich Butter drauf, ging ins Wohnzimmer und wählte Bela Brosens Nummer. Ich hoffte nur, mein Vater würde in diesem Zustand — fröstelnd vor Erschütterung — nicht nach Hause gehen, sondern zu seiner Geliebten. Sie sah so aus, als ob sie ihn ins Bett stecken, ihm einen Wärmbeutel machen, heiße Milch mit Honig geben würde. Mutter hat eine verfluchte Art, wenn man sich elend fühlt, von Zusammenreißen und Willen zu sprechen, und seit einiger Zeit hält sie kaltes Wasser für das »einzige Heilmittel«.
»Hier Brosen«, sagte sie, und es war mir angenehm, daß sie keinen Geruch ausströmte. Sie hat eine wunderbare Stimme, Alt, warm und lieb. Ich sagte: »Schnier — Hans — Sie erinnern sich?«
»Mich erinnern«, sagte sie herzlich, »und wie — und wie ich mit Ihnen fühle.«Ich wußte nicht, wovon sie sprach, es fiel mir erst ein, als sie weitersprach. »Bedenken Sie doch«, sagte sie, »alle Kritiker sind dumm, eitel, egoistisch.«
Ich seufzte. »Wenn ich das glauben könnte«, sagte ich, »wäre mir besser.«
»Glauben Sie's doch einfach«, sagte sie, »einfach glauben. Sie können sich nicht vorstellen, wie der eiserne Wille, einfach etwas zu glauben, hilft.«
»Und wenn mich dann einer lobt, was mache ich dann? «
»Oh«, sie lachte und drehte aus dem Oh eine hübsche Koloratur, »dann glauben Sie einfach, daß er zufällig einmal einen Anfall von Ehrlichkeit gehabt hat und seinen Egoismus vergessen hat.«
Ich lachte. Ich wußte nicht, ob ich sie Bela oder Frau Brosen anreden sollte. Wir kannten uns ja gar nicht, und es gibt noch kein Buch, in dem man nachschlagen kann, wie man die Geliebte seines Vaters anredet. Ich sagte schließlich »Frau Bela«, obwohl mir dieser Künstlername auf eine besonders intensive Weise schwachsinnig vorkam. »Frau Bela«, sagte ich, »ich bin in einer bösen Klemme. Vater war bei mir, wir sprachen über alles Mögliche, und ich kam nicht mehr dazu, mit ihm über Geld zu sprechen — dabei«, ich spürte, daß sie rot wurde, ich hielt sie für sehr gewissenhaft, glaubte, ihr Verhältnis zu Vater habe bestimmt mit »wahrer Liebe« zu tun, und »Geldsachen« seien ihr peinlich. »Hören Sie bitte«, sagte ich, »vergessen Sie alles, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht, schämen Sie sich nicht, ich bitte Sie nur, wenn Vater mit Ihnen über mich spricht, — ich meine, vielleicht könnten Sie ihn auf den Gedanken bringen, daß ich dringend Geld brauche. Bares Geld. Sofort, ich bin vollkommen pleite. Hören Sie?«
»Ja«, sagte sie, so leise, daß ich Angst bekam. Dann hörte ich, daß sie vor sich hinschnuffelte. »Sie halten mich sicher für eine schlechte Frau, Hans«, sagte sie, sie weinte jetzt offen, »für ein käufliches Wesen, wie es so viele gibt. Sie müssen mich ja dafür halten. Oh.«
»Keine Spur«, sagte ich laut, »ich habe Sie noch nie dafür gehalten — wirklich nicht.« Ich hatte Angst, sie könne von ihrer Seele und der Seele meines Vaters anfangen, ihrem heftigen Schluchzen nach zu urteilen, war sie ziemlich sentimental, und es war nicht ausgeschlossen, daß sie sogar von Marie anfangen würde. »Tatsächlich«, sagte ich, nicht ganz überzeugt, denn daß sie die käuflichen Wesen so verächtlich zu machen versuchte, kam mir verdächtig vor, »tatsächlich«, sagte ich, »bin ich immer von Ihrem Edelmut überzeugt gewesen und habe nie schlecht von Ihnen gedacht.« Das stimmte. »Und außerdem«, ich hätte sie gern noch einmal angeredet, brachte aber das scheußliche Bela nicht über die Lippen, »außerdem bin ich fast dreißig. Hören Sie noch?«
»Ja«, seufzte sie und schluchzte da hinten in Godesberg herum, als ob sie im Beichtstuhl hockte.
»Versuchen Sie nur, ihm beizubringen, daß ich Geld brauche.«
»Ich glaube«, sagte sie matt, »es wäre falsch, mit ihm direkt darüber zu sprechen. Alles, was seine Familie betrifft — Sie verstehen — ist für uns tabu, aber es gibt einen anderen Weg.« Ich schwieg. Ihr Schluchzen hatte sich wieder zu schlichtem Schnüffeln gemildert. »Er gibt mir hin und wieder Geld für notleidende Kollegen«, sagte sie, »er läßt mir da völlig freie Hand, und — und glauben Sie nicht, es wäre angebracht, wenn ich Sie als im Augenblick notleidenden Kollegen in den Nutzen dieser kleine Summen bringe?«