Der Ghoul kam näher, aber er schien zugleich auch mit jedem Schritt langsamer zu werden. Mogens glaubte ein misstrauisches Schnüffeln zu hören, wie von einem Hund, der die Witterung einer Beute aufgenommen hatte, zugleich aber eine Falle befürchtete. Er bewegte sich nicht in direkter Linie auf den offen stehenden Sarg mit Hyams' Leichnam zu, sondern schnüffelte unentwegt von links nach rechts. Der Blick seiner unheimlichen, rot glühenden Augen tastete misstrauisch über den angebotenen Köder, aber auch über die beiden anderen offen stehenden Särge, und mindestens einmal sah er Mogens so direkt in die Augen, dass dieser vollkommen sicher war, dass das Ungeheuer ihn einfach gesehen haben musste. Tatsächlich stockte das Monster für einen Moment im Schritt, ging aber dann nach kurzem Zögern weiter.
Vielleicht auf Armeslänge vor dem Sarg blieb der Ghoul noch einmal stehen und Mogens spürte, wie Graves neben ihm erschrocken zusammenfuhr, als er den Kopf in den Nacken legte und zur Decke hinaufsah. Er konnte das Netz gar nicht übersehen. Und dennoch ging er nach einem abermaligen Zögern weiter und beugte sich über den Sarg mit Hyams' leblosem Körper. Seine schrecklichen Klauen öffneten sich, um sich in das Fleisch seiner Beute zu graben.
»Tom!«, schrie Graves.
Der Kopf des Ungeheuers flog mit einem Ruck in den Nacken, und fünf Schritte neben Mogens erwachte der Schatten, zu dem Tom bisher erstarrt gewesen war, zu fast explosivem Leben. Mogens konnte nicht erkennen, was er tat, doch noch während auch Graves hochsprang, ertönte ein metallischreißendes Geräusch, und ihm war, als erwache die gesamte Decke der Tempelkammer zu zitternder Bewegung.
Der Ghoul reagierte unglaublich schnell. Mit einem Heulen wie dem eines angeschossenen Wolfs wirbelte er hoch und herum und schien sich dabei selbst in einen rasenden Schatten zu verwandeln, der sich fast schneller bewegte, als Mogens' Blicke ihm zu folgen vermochten.
Doch nicht schnell genug.
Die gesamte Decke schien auf ihn herabzustürzen. Selbst Mogens zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, und das schreckliche Wolfsheulen der Kreatur steigerte sich zu einem irrsinnigen Kreischen der Wut, als das schwere Netz auf sie herniederpeitschte und sie zu Boden riss.
»Licht!«, brüllte Graves. »Mogens, mach Licht!«
Er flankte kurzerhand über den Steinquader, der ihnen als Deckung gedient hatte, und auch Tom war längst auf dem Weg dorthin, wo sich der Schatten des Ghouls mit dem heruntergefallenen Netz zu einem Chaos aus reiner Bewegung verwoben hatte.
Mogens griff hilflos nach der Lampe, die Graves stehen gelassen hatte, und hob sie in die Höhe. Das Licht reichte nicht aus, um mehr zu erkennen, auch nicht, als Mogens den Docht höher drehte. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Graves und Tom den tobenden Ghoul beinahe gleichzeitig erreichten und sich todesmutig auf ihn warfen, machte einen Schritt in ihre Richtung und blieb wieder stehen. Graves und sein jugendlicher Gehilfe kämpften mit dem Ungeheuer, aber er konnte keine Einzelheiten erkennen. Er hatte nur Angst.
»Hilf uns«, schrie Graves. »Mogens! Er ist zu stark für uns!«
Mogens machte einen weiteren Schritt. Sein Herz hämmerte. Angst floss wie zähflüssiger Teer durch seine Adern und ließ alle seine Bewegungen grotesk langsam werden. Er wollte Graves helfen, aber zugleich hatte die Panik seine Gedanken lichterloh in Flammen gesetzt, und er wollte nur noch weg. Er hatte noch niemals solche Angst gehabt wie jetzt.
»Mogens, um Himmels willen!«, brüllte Graves. Und dann schrie auch Tom: »Professor!«
Es war Toms Schrei, der Mogens aus seiner Erstarrung riss, nicht der Graves'. Seine Angst war keinen Deut schwächer geworden, sondern nahm im Gegenteil mit jedem hämmernden schweren Herzschlag noch zu, aber die bloße Vorstellung, Tom im Stich zu lassen, war noch unendlich viel schlimmer.
Mit einem Schrei, mit dem er all seine Angst hinausbrüllte, stürzte er vor und fiel der Länge nach hin, als sich sein Fuß prompt in einem der Stricke verfing, die Tom kreuz und quer durch den Raum gespannt hatte.
Instinktiv riss er die Arme vor das Gesicht, und darüber hinaus dämpften die gleichen Seile, die ihn zu Fall gebracht hatten, auch seinen Aufprall, sodass er sich dieses Mal nicht verletzte. Jedoch blieb er einen Moment benommen liegen, und als er sich wieder hochstemmte, hatte der bizarre Kampf eine dramatische Wendung genommen. Obwohl Graves und Tom in der Überzahl waren und der Ghoul von dem schweren Netz behindert wurde, dessen bloßes Gewicht schon ausgereicht hätte, um einen normalen Menschen niederzuhalten, drohten sie den Kampf zu verlieren. Der Ghoul hatte sich mittlerweile auf alle viere hochgestemmt und biss und schlug fauchend um sich. Die fast daumendicken Stricke des Netzes schützten Graves und den Jungen zwar vor seinen Zähnen und Krallen, aber es gelang ihnen auch nicht, das Ungeheuer niederzuringen. Tom hatte sich auf seinen Rücken geworfen und versuchte mit aller Macht, ihn zu bändigen, aber ebenso hätte er auch versuchen können, einen wütenden Grizzly mit bloßen Händen zu besiegen. Es sah beinahe schon komisch aus.
»Hilf uns, verdammt!«, keuchte Graves. »Wir müssen ihn umwerfen!«
Mogens hatte nicht die mindeste Vorstellung, wozu das gut sein sollte, aber Graves' befehlender Ton riss ihn einfach mit. Graves tat etwas, was Mogens im ersten Moment ebenso sinnlos erschien wie Toms vermeintlich albernes Herumgehampeclass="underline" Er nahm einen Schritt Anlauf und warf sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Bestie. Der Ghoul heulte auf und schnappte nach ihm. Das Gorillanetz schützte Graves auch jetzt vor seinen Zähnen, aber Mogens hörte Stoff reißen. Ein nur noch halb unterdrückter Schrei kam über Graves' Lippen, als er zurücktaumelte.
»Jonathan, um Gottes willen - bist du verletzt?«, keuchte Mogens.
Graves antwortete nicht gleich, sondern starrte aus hervorquellenden Augen an sich herab. Die Fänge des Ghouls hatten seine Jacke und auch das Hemd so sauber wie Rasierklingen aufgeschlitzt, die Haut darunter aber wie durch ein Wunder nicht einmal angeritzt.
»Schnell!«, schrie Tom. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten!«
Tatsächlich hatte sich der Ghoul weiter aufgerichtet. Seine schnappenden Kiefer und Klauen verfingen sich immer wieder in den Maschen des Netzes, aber es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis er Tom abgeschüttelt hatte und seine ganze Kraft darauf verwenden konnte, sich aus dem Netz zu befreien.
Diesmal versuchten sie es gemeinsam. Der Ghoul brüllte vor Wut und schlug nach ihm, doch ihr gemeinsamer Anprall - zusammen mit Toms Bemühungen - war selbst für ihn zu viel. Das Ungeheuer stürzte schwer auf die Seite, wobei es Tom um ein Haar unter sich begraben hätte, und Mogens und Graves nutzten die Gelegenheit, es hastig noch weiter in das Netz einzuwickeln. Die Bestie schlug, trat und biss um sich, doch nun richteten sich ihre wütenden Bewegungen und ihre übermenschliche Kraft gegen sie selbst, denn je verzweifelter sie sich wehrte, desto hoffnungsloser verstrickte sie sich in den Maschen des Netzes. Nach nur wenigen weiteren Augenblicken hatte der Ghoul sich praktisch selbst außer Gefecht gesetzt, und das gründlicher und vor allem schneller, als es seinen menschlichen Kontrahenten jemals möglich gewesen wäre. Aus seinem Wutgebrüll war ein drohendes Knurren und Geifern geworden.
Graves richtete sich schwer atmend auf und trat einen Schritt zurück. »Ist jemand verletzt?«, fragte er.
Mogens zuckte mit den Schultern, was in diesem Moment die einzige Antwort war, die er geben konnte. Er hatte eine ganze Anzahl derber Stöße und Schläge abbekommen, und mit ziemlicher Sicherheit würde seine Hüfte morgen früh nicht das Einzige an ihm sein, das ein prächtiger blauer Fleck zierte. Aber er glaubte nicht, dass er ernstlich verletzt war.