Выбрать главу

»Das wäre ungewöhnlich«, sagte Graves. »Bei den meisten Raubtieren sind es eher die Weibchen, die jagen. Allenfalls, dass beide Gattungen auf Nahrungssuche gehen.«

»Sagtest du nicht selbst, dass das hier eine vollkommen unbekannte Spezies ist, über die wir so gut wie nichts wissen?«, gab Mogens zurück.

Graves sah ihn einige Sekunden lang nachdenklich an, aber dann nickte er widerwillig. »Natürlich. Du hast Recht. Aber sonderbar ist es trotzdem. Nun ja, wir haben ja jetzt ein Exemplar, um wenigstens einige ihrer Geheimnisse lösen zu können.«

Als hätte er seine Worte verstanden, bäumte sich der Ghoul gegen seine Fesseln auf und stieß ein lang gezogenes Heulen aus. Mogens wich instinktiv einen halben Schritt zurück, und auch Graves fuhr merklich zusammen. Tom, der noch zwei Schritte entfernt war und gerade mit einer zweiten Laterne zurückkam, blieb instinktiv stehen und sah nervös über die Schulter zurück in die Dunkelheit, aus der er gerade gekommen war.

»Was hast du jetzt mit ihm vor?«, fragte Mogens - im Grunde nur, um die Furcht zu überspielen, die erneut in seinem Herzen erwachen wollte.

»Zuerst einmal schaffen wir ihn hier raus«, antwortete Graves. Auch er klang ein wenig nervös. »Tom hat in den letzten Tagen Material für einen stabilen Gitterkäfig aus der Stadt geholt. Binnen einer Stunde können wir ihn zusammenbauen.«

»Und dann?«

Wieder ließ das gefesselte Ungeheuer jenes unheimliche, klagende Wolfsheulen hören, sodass es einen Moment dauerte, bis Graves antworten konnte. »Sheriff Wilson hat einen Telefonanschluss in seinem Büro«, sagte er. »Ich muss ein paar Anrufe tätigen, aber im Grunde sind die meisten Vorbereitungen schon getroffen. Mit etwas Glück können wir ihn morgen Abend nach San Francisco bringen, um ihn der Öffentlichkeit zu präsentieren - und natürlich einem Auditorium unserer geschätzten Kollegen.« Er seufzte. »Mach dich auf etwas gefasst, Mogens. Du weißt, was diese Entdeckung auslösen wird. Sie werden nichts unversucht lassen, uns als Dummköpfe oder Betrüger hinzustellen. Oder beides.«

Vermutlich beides, dachte Mogens. Er gestand sich ein, dass das Schlimmste noch nicht überstanden war. Genau genommen hatte es noch nicht einmal angefangen. Und es kam gewiss nicht von ungefähr, dass er bisher noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, welches Erdbeben sie in der Welt der Wissenschaft auslösen würden, wenn sie diese Kreatur der Öffentlichkeit präsentierten. Aber auch jetzt war nicht der richtige Moment dazu, und er sagte es auch.

»Du hast Recht«, sagte Graves. »Tom.«

Tom stellte seine Laterne am Fußende der Kiste ab und machte eine fragende Geste. »Das Netz?«

Graves überlegte einen Moment, aber dann schüttelte er zu Mogens' Erleichterung den Kopf. »Besser, wir lassen es, wo es ist. Das wird ihn nicht umbringen.« Ganz offensichtlich bewegten sich seine Gedanken in eine ähnliche Richtung wie die von Mogens. Die massiven Hand- und Fußfesseln sahen stabil genug aus, um selbst den Kräften eines wütenden Gorillamännchens zu trotzen. Angesichts dessen, was Graves vorhin selbst über die Herkunft des Netzes gesagt hatte, nahm Mogens sogar an, dass ein solches Tier bei der Konstruktion seiner »Särge« Pate gestanden hatte. Er war zugleich aber sicher, dass der Ghoul über weit größere Körperkräfte verfügte als jeder Gorilla. Vielleicht war Graves auf all seinen Reisen diesen Geschöpfen doch nicht so nahe gekommen, wie er behauptet hatte.

Wieder heulte der Ghoul. Diesmal versuchte er nicht, sich gegen seine Fesseln zu stemmen - vielleicht, weil er die Sinnlosigkeit seines Tuns eingesehen hatte -, aber das Heulen hielt länger an und klang klagender; viel weniger wütend oder zornig, sondern eher wie ein Hilferuf. Mogens versuchte den Gedanken fast erschrocken abzuschütteln, aber seine noch immer auf Hochtouren laufende Fantasie griff ihn begierig auf und bastelte sich auch noch ein zweites, entfernteres und daher leiseres Wolfsheulen dazu, das darauf antwortete. Es kostete ihn alle Mühe, die unheimliche Vision zu verscheuchen.

Aber vielleicht war es ja auch gar keine Vision...

Als Mogens aufsah, hatten sich Graves und Tom halb umgewandt und sahen mit schreckensbleichen Gesichtern in die Dunkelheit jenseits der Totenbarke.

Dorthin, wo der Geheimgang lag, der zur zweiten Tempelkammer führte.

Und damit in die Richtung, aus der das an- und abschwellende Heulen kam, das auf die Hilferufe des Ghouls antwortete...

»Die Tür!«, sagte Graves erschrocken. »Tom, schließ die Tür!«

Tom erwachte mit einer Verzögerung von einer weiteren Sekunde aus seiner Erstarrung und stürzte los, aber es war zu spät. Er hatte den zweiten Schritt noch nicht zu Ende getan, als ein dumpfes Poltern erscholl, gefolgt von dem typischen Bersten zerbrechenden Steins. Genau auf der Grenze zwischen völliger Dunkelheit und gerade noch erahnbarer Schatten begann einer der lebensgroßen Streitwagen zu wanken. Vor fünftausend Jahren bemaltes Holz wurde von einem gewaltigen Hieb zertrümmert, und die lebensgroße Pferdestatue stürzte zu Boden und zerbrach in mehrere Teile.

Der Platz, an dem sie gestanden hatte, blieb jedoch nicht leer. Noch während die einzelnen Teile der zerbrochenen Skulptur davonrollten, wuchs ein gedrungener, spitzohriger Schatten an ihrer Stelle empor, und unheimliche, rot glühende Augen starrten Mogens an. Das grässliche Wolfsheulen war verstummt, doch dafür hörte Mogens nun einen fast noch furchteinflößenderen Laut: eine Mischung aus einem Knurren und einem grollenden Fauchen, die Mogens das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Nicht so Tom. Auch er erstarrte für eine Sekunde, dann aber stieß er einen gellenden Schrei aus, riss die Arme in die Höhe und rannte los, um sich mit bloßen Fäusten auf den Ghoul zu stürzen.

Er erreichte ihn nie.

Es war nicht dieser Ghoul, der Tom ansprang und zu Boden riss, sondern ein anderer, viel näherer Teil der Schatten, der zu plötzlichem Leben erwachte. Aus Toms Schrei wurde ein entsetztes Keuchen, das mit erschreckender Plötzlichkeit abbrach, als der Ghoul ihn unter sich begrub.

Mogens erschrak nicht einmal wirklich. Er war viel zu entsetzt, um noch Überraschung empfinden zu können. Die Wirklichkeit war endgültig zum Albtraum geworden, und der Albtraum zur Wirklichkeit. Obwohl vollkommen gelähmt und hilflos vor Entsetzen, empfand Mogens doch zugleich eine vollkommen absurde Erleichterung, als der Ghoul endgültig aus den Schatten trat und von einem bloßen Schemen zu einer massigen, muskel- und fellbepackten Gestalt mit mörderischen Zähnen und Klauen wurde. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er nun sterben würde, in dieser Minute, innerhalb der nächsten Sekunden, und doch war er erleichtert, dass ihm der allergrößte Schrecken erspart blieb. Die beiden Ghoule brachten den sicheren Tod, doch das, was er für einen grässlichen zeitlosen Moment zu sehen glaubte, das Janice-Ding aus seinem Albtraum, hatte den Wahnsinn gebracht, den Sturz in den bodenlosen Abgrund eines Irrsinns, der hundertmal schlimmer wäre als der Tod.

Die beiden Ghoule kamen langsam näher. Sie hatten aufgehört zu knurren, und stattdessen hörte Mogens nun ein Schnüffeln und Hecheln, das von einem tiefen, aber nicht einmal unbedingt drohend winkenden Grollen begleitet wurde. Ein Übelkeit erregender, süßlicher Odem wehte Mogens entgegen, den er zuerst für Verwesungsgestank hielt, bis er begriff, dass es der Körpergeruch von Wesen war, die sich so lange von verfaulendem Fleisch ernährt hatten, bis der Geruch ihrer Nahrung zu ihrem eigenen geworden war.

»Um Himmels willen, Mogens - lauf!«, brüllte Graves. Mogens rührte sich nicht, aber Graves fuhr auf dem Absatz herum und zerrte ihn so derb mit sich, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und zwei, drei Schritte hilflos hinter ihm her stolperte, bevor es ihm gelang, seine Balance wieder zu finden und sich loszureißen.

»Tom!«, keuchte er. »Sie haben Tom! Wir müssen ihm helfen!«