Es konnte nicht lange gedauert haben. Die Ghoule waren verschwunden, aber er glaubte noch einen verschwommenen Schatten irgendwo vor sich zu erkennen, und Miss Preusslers verzweifelte Schreie waren zwar leiser geworden, aber keineswegs verstummt. Taumelnd kam Mogens auf die Füße, presste die Hand auf die verletzte Seite und krümmte sich vor Schmerz, zwang sich aber dennoch, einen weiteren Schritt zu tun. Miss Preusslers Schreie wurden leiser, zugleich aber deutlich verzweifelter.
»Mogens, was tust du?«, schrie Graves.
Mogens ignorierte ihn, zwang sich zu einem weiteren Schritt und biss die Zähne zusammen, um ein Wimmern zu unterdrücken. Er wagte es nicht, an sich hinabzublicken, aber er spürte, wie nass und schwer seine Kleider von seinem eigenen Blut waren. Er hatte noch nie zuvor solche Schmerzen erlitten. Dennoch stolperte er weiter, zwang sich stöhnend, sich vollends aufzurichten und schaffte es sogar, seine Schritte um eine Winzigkeit zu beschleunigen. Miss Preusslers Schreie wurden leiser, aber noch waren sie zu hören. Er musste sie retten. Ganz gleich wie. Ganz gleich, was es ihn kostete. Es durfte nicht noch einmal geschehen. Er durfte nicht noch einmal versagen.
»Mogens, bist du wahnsinnig?«, brüllte Graves hinter ihm. »Bleib hier! Sie werden dich umbringen!«
Mogens taumelte weiter. Er konnte spüren, wie vielleicht nicht das Leben, wohl aber mehr und mehr von seiner Kraft aus den schrecklichen Wunden aus ihm herausfloss, die ihm die Bestie geschlagen hatte. Und trotzdem taumelte er nicht nur weiter, sondern wurde auch mit jedem stolpernden Schritt schneller. Um ein Haar wäre er gestürzt, als sein Fuß gegen den abgebrochenen Schädel der Pferdestatue stieß, aber schließlich erreichte er die Geheimtür, die hinter der Horus-Statue lag. Der steinerne Göttervogel war zerborsten und lag in mehrere Stücke zerbrochen am Boden, und auch die Tür selbst war wie von einem gewaltigen Axthieb gespalten. Dahinter gähnte ein scheinbar bodenloser, vollkommen schwarzer Abgrund.
Eine zitternde Linie aus bleichem Licht glitt über ihn hinweg und tastete nach dem offen stehenden Geheimgang. Mogens hielt verwirrt mitten im Schritt inne und wandte den Kopf. Graves hockte noch immer an der Wand neben dem Ausgang und schrie ihm weiter verzweifelte Warnungen zu, umzukehren, aber Tom hatte weitaus besonnener reagiert und folgte ihm nicht nur, sondern hatte sich auch eine der beiden brennenden Laternen gegriffen.
»Professor! Um Gottes willen! Warten Sie!«
Mogens stolperte noch einen halben Schritt weiter und blieb dann - fast zu seiner eigenen Überraschung - tatsächlich stehen. Alles drehte sich um ihn, wurde unwichtig, und die Schmerzen hatten ein Maß erreicht, das er sich noch vor wenigen Augenblicken nicht einmal hätte vorstellen können, war zugleich aber auf eine sonderbare Art unwichtig geworden, sodass er ihn kaum noch störte. Es war Toms Stimme gewesen, die ihn zurückgerufen hatte. Wäre es Graves gewesen, wäre er vielleicht aus schierem Trotz einfach weiter getorkelt, selbst wenn es seinen sicheren Tod bedeutete.
Vielleicht war es auch schon zu spät. Die Wunden, die ihm der Ghoul zugefügt hatte, bluteten immer heftiger. Seine Kleider hingen nass und schwer an seinem Leib, und er konnte den süßlichen Kupfergeruch, den er verströmte, mittlerweile selbst spüren. Er war Beute. Alles an ihm signalisierte: Beute. Und er floh nicht vor seinen Jägern, er rannte ihnen hinterher.
Tom langte schwer atmend neben ihm an. Die Laterne in seiner Hand zitterte so stark, dass ihr Lichtschein die Hieroglyphen in den Wänden zu unheimlichem huschendem Leben zu erwecken schien. Metall blitzte in seiner anderen Hand, vielleicht eine Waffe, und auch sein Gesicht war blutüberströmt, aber Mogens vermochte nicht zu sagen, ob es sein eigenes Blut war.
»Geht es noch?«
Mogens hatte Mühe, den Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Die Höhle hatte aufgehört, sich um ihn zu drehen, und die Welt begann zu steinerner Härte zu gerinnen, die ihn zu erdrücken drohte. Er bekam keine Luft mehr, als enthielte jeder gequälte Atemzug, zu dem er seine Lungen zwang, ein bisschen weniger Sauerstoff als der vorhergehende. Ein Teil von ihm begriff mit kristallener Klarheit, dass es die Folgen des Blutverlustes waren, die er spürte; der Wissenschaftler in ihm, der ihm in emotionslosem Ton erklärte, was genau in diesem Moment in seinem Körper geschah: sein Herz schlug immer schneller, um sein Blut mit dem Sauerstoff anzureichern, den jede Faser seines Körpers so verzweifelt benötigte, aber ganz gleich, wie angestrengt Herz und Lungen auch arbeiteten, es war einfach nicht mehr genug Blut da, um den kostbaren Sauerstoff dorthin zu bringen, wo er gebraucht würde.
Oder, um es anders auszudrücken: Er war dabei, bei vollem Bewusstsein zu verbluten.
»Ja«, murmelte er.
Toms Blick wurde für einen Moment noch besorgter. Eine weitere, unendlich kostbare der so verzweifelt wenigen Sekunden, die ihm noch blieben, verstrich und war unwiederbringlich dahin, bevor Tom zu einem Entschluss kam und nickte.
»Also gut«, sagte er und hielt ihm die Hand hin. Was Mogens für eine Waffe gehalten hatte, war eine klobige Lampe, die weißes Licht und einen scharfen Karbidgeruch verströmte, als Tom sie entzündete. Sie wog eine Tonne. Mogens musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um sie zu halten, und selbst dann war er nicht sicher, sie nicht doch nach ein paar Schritten fallen zu lassen. Es spielte keine Rolle mehr. Tom machte abrupt auf dem Absatz kehrt und drang mit schnellen Schritten in den Hieroglyphengang ein, und zu Mogens' eigener, unendlich großer Überraschung gelang es ihm nicht nur, ihm zu folgen, sondern auch, mit ihm Schritt zu halten. Der Teil von ihm, der sich noch immer mit verzweifelter Kraft an eine Illusion namens Logik klammerte und ihm zuschrie, dass er dabei war, sich umzubringen, wurde leiser; verzweifelter und hysterischer, aber leiser. Er hatte Recht - Mogens konnte mittlerweile tatsächlich spüren, wie das Leben in harten, pulsierenden Stößen aus ihm herausfloss. Seine Schritte hinterließen blutige Fußabdrücke auf dem staubigen Boden, und die Schmerzen gingen allmählich in ein auf absurde Weise fast angenehmes Schwindelgefühl über. Aber es war gleich. Mochte der Tod dort vorne am Ende des Tunnels auf ihn warten, er musste ihn zu Ende gehen, um seine Schuld dem Schicksal gegenüber zurückzuzahlen. Es durfte nicht noch einmal geschehen.
Gegen Ende des Tunnels begann Toms Vorsprung doch sichtbar anzuwachsen. Der hektisch hin und her tanzende Schein seiner Lampe entfernte sich allmählich und war dann plötzlich verschwunden, um nur einen Moment später blasser und sonderbar zerfasert wieder aufzutauchen. Er hatte die Schutthalde überwunden und die Torkammer betreten. Mogens hörte ihn irgendetwas rufen, aber er verstand die Worte nicht. Vielleicht war es auch nur ein Schrei.
Mogens versuchte ihm zu folgen, aber seine Kraft reichte nicht mehr. Todesangst und Panik und ein seit einem Jahrzehnt geschürter Trotz dem Schicksal gegenüber hatten es ihm ermöglicht, auch jene letzten, finalen Kraftreserven anzuzapfen, die tief in jedem Menschen verborgen sind, aber nun neigte sich auch jenes letzte Reservoir dem Ende entgegen. Seine Kraft reichte noch, sich die Schutthalde hinauf zu quälen, aber nicht weiter. Auf ihrem Kamm brach er zusammen. Die Lampe entglitt Mogens aus von seinem eigenen Blut glitschig gewordenen Fingern, ging aber erstaunlicherweise nicht aus, sondern rollte auf der anderen Seite klappernd und sich unentwegt überschlagend die Halde hinab, wodurch ihr Licht in regelmäßigem Takt erlosch und wieder grell aufflammte, ein glühender Dolch, der weiße Bahnen aus geometrischen Linien und Winkeln in die Dunkelheit schnitt, Teile von Skulpturen und bizarre Halbgesichter aus der ewigen Nacht schälte und rascher wieder in ihr finsteres Gefängnis zurückstieß, als der Blick sie erfassen konnte, ließ Hieroglyphen und Basreliefs aufblitzen und zu einer Bewegung erwachen, die nicht sein durfte. Aber da war auch noch mehr. Trotz seines geschwächten Zustandes und obwohl der Bewusstlosigkeit ungleich näher als dem Wachsein erkannte es Mogens: Es waren nicht nur die Schatten. Genau auf der Schwelle zwischen gleißender Helligkeit und absoluter Schwärze, auf dem unendlich schmalen Grat, an dem sich Licht und Schatten endgültig voneinander trennten und aus dem Janice zu ihm gekommen war, bewegte sich etwas. Da waren... Dinge. Unheimliche, gestaltlose Dinge, die sich bewegten, ohne jemals von der Stelle zu kommen, Dinge, deren Zeit verging, ohne dass auch nur der millionste Teil einer Sekunde verstrich.