Graves bemühte sich weiter nach Kräften um Gesichtsausdruck und Tonfall eines Vaters, der seinem Sohn zu erklären versucht, dass die Welt nicht untergeht, weil er sich einen Splitter eingerissen hat. »Ein paar Kratzer«, behauptete er. »Hässlich, und ich nehme an, dass sie auch ziemlich wehtun, aber halb so schlimm. Tom hat deine Hände verbunden.« Er verzog die Lippen. »Er ist ein guter Junge mit einer Menge unterschiedlicher Talente, aber ich fürchte, zum Krankenpfleger ist er weniger geeignet.«
Mogens blieb ernst und hob die Hände vor das Gesicht, um sie noch einmal und eingehender zu betrachten. Es war nicht verwunderlich, dass er die Finger nicht bewegen konnte. Tom musste tatsächlich so etwas wie der untalentierteste Krankenpfleger der Welt sein, denn er hatte seine Finger kurzerhand zusammengebunden, sodass seine Hände aussahen, als steckten sie in grob genähten Fäustlingen. Mogens fragte sich, ob es sich dabei tatsächlich nur um Ungeschick handelte, oder ob es vielleicht einen Grund dazu gab. Das Fleisch, das er unter dem schmuddeligen Verbandsmull nicht sehen konnte, brannte jedenfalls, als hätte er die Hände in Säure getaucht.
Seltsam. Er erinnerte sich gar nicht, sich die Hände verletzt zu haben...
Dafür erinnerte er sich plötzlich umso deutlicher an blitzende Fänge, die nach seinem Gesicht schnappten, und rasiermesserscharfe Klauen, die ebenso mühelos und schnell wie ein chirurgisches Präzisionsmesser durch sein Fleisch geglitten waren.
Die Erinnerung weckte den Schmerz. Mogens setzte sich mit einem Ruck abermals auf, wodurch nicht nur das Brennen in seiner Seite zu noch größerer Qual aufloderte, sondern auch die dünne Decke von seinen Schultern glitt. Darunter war er nackt, wenigstens zum großen Teil. Wo seine zerschundene und schmutzige Haut nicht sichtbar war, erblickte er straff angelegte Verbände aus demselben grauen Verbandsmull, mit dem auch seine Hände umwickelt waren.
»Eigentlich müsste doch für dich jetzt ein Traum in Erfüllung gegangen sein«, griente Graves. Mogens starrte ihn finster an, aber Graves' Grinsen wurde nur noch breiter. »Wahrscheinlich bist du der erste Archäologe der Welt, der aus eigener Erfahrung weiß, wie sich eine Mumie fühlt«, erklärte er, während er sich gemächlich zurücklehnte und sich mit umständlichen Bewegungen eine Zigarette anzündete, den Umstand, dass er sich an einem Krankenlager befand, geflissentlich ignorierend.
Mogens versuchte, sich noch weiter aufzurichten, ließ es aber bleiben, als ihm leicht schwindelig wurde. Außerdem bemerkte er nun, dass er auch unter der Decke auf seinen Hüften nichts weiter trug als die Verbände - die ihm tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ägyptischen Mumie verliehen, wie er widerwillig eingestehen musste - und es wäre ihm peinlich gewesen, nackt vor Graves zu stehen; auch wenn das nun wirklich albern war. Vermutlich war es Graves gewesen, der ihn ausgezogen hatte.
So klein seine Bewegung auch gewesen sein mochte, reichte sie doch offensichtlich aus, Graves' Missfallen zu erregen, denn er blies kopfschüttelnd eine übel riechende graue Wolke in seine Richtung und sagte: »Du solltest dich noch nicht zu viel bewegen, alter Junge. Die Verletzungen sind gottlob nicht so schlimm, wie es im ersten Moment den Anschein hatte, aber du hast eine Menge Blut verloren.«
»Was ist passiert?«, fragte Mogens und setzte sich schon aus purem Trotz noch ein Stück weiter auf. Er mochte es nicht, wenn Graves ihn »alter Junge« nannte. Der Kerl war ein halbes Jahr jünger als er, verdammt!
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Graves und schlabberte eine weitere Woge aus grauem Qualm in seine Richtung. Mogens hustete demonstrativ, wodurch sich Graves dazu bemüßigt zu fühlen schien, einen weiteren, noch tieferen Zug an der Zigarette zu nehmen. »Scheint, als wäre etwas schiefgegangen«, fügte er hinzu.
»Etwas schief gegangen?« Mogens ächzte. Seine Erinnerungen an die zurückliegende Nacht waren immer noch lückenhaft, aber selbst des Wenige, woran er sich erinnerte, war ganz gewiss nicht dergestalt, dass er es mit dem saloppen Ausdruck schief gegangen bezeichnet hätte. Graves musterte ihn nur kühl, deutete ein Achselzucken an und sog erneut an seiner Zigarette.
Mogens kramte angestrengt in seinem Gedächtnis, aber er stieß nur auf ein wirres Durcheinander aus größtenteils sinnlosen und ausnahmslos Furcht erregenden Bildern, von denen er spürte, dass sie sehr wohl in der Lage gewesen wären, sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, ohne dass es ihm indes gelang. Konnte es sein, dass sich ein Teil von ihm gar nicht erinnern wollte?
Er tat so, als versuche er in eine etwas bequemere Position auf dem Bett zu rutschen, nutzte die Bewegung aber in Wahrheit, um unauffällig an Graves vorbeizulinsen und nach Janice Ausschau zu halten. Sie war tatsächlich da, ein Schatten in den Schatten, der ihn aus unheimlichen glosenden Schakalaugen anstarrte, während ihre Lippen zwei lautlose, schreckliche Worte formten; die Erinnerung an das, woran er sich um keinen Preis hatte erinnern wollen.
»Miss Preussler!«, entfuhr es ihm. Plötzlich war alles wieder da. Die Erinnerung traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Graves an und flüsterte noch einmaclass="underline" »Miss Preussler, Jonathan! Was... was ist mit ihr?«
Aus den Schatten heraus antwortete Janices lautlosspöttische Stimme. Aber das weißt du doch, mein kleiner Dummkopf. Ihr ist dasselbe zugestoßen wie all deinen Frauen. Graves jedoch hob nur abermals die Schultern und deutete gleichzeitig ein Kopfschütteln an.
»Mann Gottes, Jonathan«, keuchte Mogens, »Miss Preussler befindet sich in der Gewalt dieser... dieser Bestien... oder ist vielleicht schon tot. Und alles, was dir dazu einfällt, ist ein Kopf schütteln?«
»Brächte es sie zurück, wenn ich in Tränen ausbräche?«, fragte Graves kalt. »Was geschehen ist, ist bedauerlich. Niemandem tut das, was deiner bemitleidenswerten Zimmerwirtin widerfahren ist, mehr Leid als mir, das versichere ich dir. Aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen.«
»Und das ist alles, was dir dazu einfällt?«, flüsterte Mogens ungläubig. So wenig, wie er sich noch vor einer Minute hatte erinnern können, so schwer fiel es ihm nun, sich der entsetzlichen Bilder zu erwehren, die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einstürmten.
»Es war ein Experiment, das außer Kontrolle geraten ist«, erwiderte Graves, noch immer äußerlich scheinbar vollkommen unberührt, dennoch aber in hörbar schärferem Ton. »Ich sagte bereits, es tut mir Leid! Aber manchmal müssen dem wissenschaftlichen Fortschritt eben auch Opfer gebracht werden, so bedauerlich uns das auch erscheinen mag.«
Graves starrte ihn fassungslos an. Er hatte eine Menge von Graves erwartet, aber das erschütterte selbst ihn. »Opfer gebracht?«, murmelte er ungläubig.
»Auch ich habe Opfer gebracht«, versetzte Graves. »Und du, Mogens, wenn ich dich daran erinnern darf. Oder hast du das gottverlassene Loch schon vergessen, aus dem ich dich herausgeholt habe?«
»Nein«, antwortete Mogens gepresst. Er musste sich mit aller Kraft beherrschen, um Graves nicht anzuschreien. Wenn er diesem Mann bisher vielleicht noch einen Rest von Menschlichkeit zugebilligt hatte, so hatte Graves ihn spätestens in diesem Moment verspielt. »Da gibt es nur einen Unterschied, weißt du: Niemand hat uns gezwungen, hierher zu kommen. Wir beide kannten das Risiko. Miss Preussler hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf sie sich einlässt.«
Graves setzte zu einer sichtlich noch schärferen Antwort an, überlegte es sich aber dann anders und stand mit einem Ruck auf. »Niemand hat sie gezwungen, vergangene Nacht zu uns herunter zu kommen. Ganz im Gegenteil. Ich hatte es ihr ausdrücklich untersagt!« Er schnitt Mogens mit einer herrischen Geste das Wort ab, als er widersprechen wollte, mäßigte aber trotzdem seinen Ton, als er fortfuhr: »Du bist im Moment erregt, Mogens. Das kann ich verstehen, nach allem, was du mitgemacht hast. Ruh dich eine Weile aus. Ich komme später noch einmal zu dir, und dann reden wir. Ich habe interessante Neuigkeiten.«